Keine Nüsse im November

Was klingt wie der Alptraum eines Eichhörnchens ist in Wahrheit ein zur Internetchallenge mutiertes Meme, das seit 2017 immer populärer wird: Der „NoNutNovember“. Nut ist in dem Zusammenhang ein englischer Slangbegriff, der den männlichen Samenerguss meint (referierend auf die Hoden als „Nüsse“). Der Name ist selbsterklärend: Ziel der Herausforderung ist es, im gesamten Monat November keinen Orgasmus zu haben und die dadurch eingesparte Zeit und sexuelle Energie auf sinnvollere Art zu nutzen. Das Konzept kommt an. Jedes Jahr entschließen sich mehr Männer dazu, gemeinsam mit einer Community, die sich gegenseitig bei der temporären Enthaltsamkeit unterstützt, die Herausforderung des NoNutNovember anzunehmen. Was als kleines Meme begann, hat inzwischen auf Plattformen wie Reddit große Bekanntheit erlangt. Der größte sich mit dem Thema beschäftigende Subreddit, /r/nonutnovember, hat mittlerweile eine Community von fast 86000 Menschen. Doch wozu das Ganze?

Allein das Versprechen, dass man nach erfolgreichem Absolvieren der Herausforderung telekinetische Kräfte erlangt, wird die meisten Teilnehmer vermutlich nicht überzeugen. Die Idee zielt stattdessen in Richtung Selbstverbesserung, denn neben der Herausforderung an die eigene Selbstdisziplin soll man sich vor allem bewusst dafür entscheiden, einen Monat lang frei vom Konsum von Pornographie zu sein, der besonders bei jüngeren Männern aufgrund der ständigen Verfügbarkeit im Internet längst unüberschaubare Dimensionen angenommen hat. Viele von ihnen leiden an Einsamkeit, sind schüchtern oder haben ein geringes Selbstbewusstsein. Für sie ist die Pornographie der Ersatz für reale Sexualität. Allein über die Website „Pornhub“, dem größten kostenlosen Internetportal für Pornographie, wurden im Jahr 2019 insgesamt 5,8 Milliarden Stunden pornographischen Materials angesehen. 1,36 Millionen Stunden (~169 Jahre) Videomaterial wurden im selben Zeitraum hochgeladen. Das Einstiegsalter ist jung. Laut Statista konsumieren 35,5% der Jungen in 9. Klassen in Deutschland selten, 20,7% häufig Pornographie. Eine Studie der Universitäten Hohenheim und Münster aus dem Jahr 2018 ermittelte, dass der Erstkontakt mit Pornographie im Durchschnitt mit 12,7 Jahren stattfindet.Wieso soll nun aber darauf verzichtet werden?

Gegner;innen der Pornographie begreifen sie als klassisches Suchtmittel: Beim Konsum wird das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet und dadurch unser Belohnungszentrum stimuliert. Das Hochgefühl der Euphorie, das dabei ausgelöst wird, ist natürlich eine sehr positive Erfahrung und wer sein Verhalten hier nicht weiter bedenkt, wird, wie bei jeder anderen Droge, immer wieder darauf zurückkommen. Angebliche langfristige Folgen können beispielsweise Potenzprobleme sein, da sich das Gehirn durch das ständige Wechseln zu neuen Videos, das Überspringen von Szenen oder das Ansehen von Sammlungen kurzer Clips an eine Flut ständig wechselnder sexueller Reize gewöhnt. So eine Vielzahl verschiedener Eindrücke ist bei realem Sex nicht reproduzierbar, im schlimmsten Fall bleibt die Erregung einfach aus. Eine Studie aus der psychiatrischen Abteilung der Charité in Berlin aus dem Jahr 2016 hat gezeigt, dass Männer mit hohem Pornographiekonsum einen deutlich kleineren Schweifkern vorwiesen als solche, die keine Pornos konsumieren. Der Schweifkern ist ein zentral gelegenes Hirnareal, das für die Entdeckung, Wahrnehmung und Unterscheidung von Belohnungsreizen zuständig ist sowie dafür sorgt, dass man motiviert ist, eine potentielle Belohnung anzustreben. In der Studie wurde zusätzlich eine Korrelation von hohem Pornokonsum zu Tendenzen zu Sexsucht, Depression und Alkoholismus festgestellt. Neben den psychischen Problemen an der eigenen Person ist ein klassisches Argument von Pornographiegegner;innen der negative Einfluss auf die Entwicklung des Sexuallebens. Gerade bei jungen Menschen würden Pornos oft ein völlig falsches Bild von Sexualität vermitteln, was dazu führen könne, dass man sich bei realen sexuellen Erlebnissen vom Vorbild im Internet unter Druck gesetzt fühlt und Erwartungen an sich selbst und den oder die Partner;in hat, die in dieser Form nicht erfüllt werden können. Viele Praktiken erfordern im echten Leben ein sehr hohes Maß von Vertrauen und Absprache. Sollte die Sexualisierung über Pornographie in solche Kategorien ausufern könne das dazu führen, so die Stimme der Kritik, dass auch in der Realität Grenzen überschritten und Gewalt gegenüber dem Partner oder sogar einer fremden Person bis zu einem gewissen Punkt als Normalität bagatellisiert wird.

Doch entgegen aller Kritik am Pornokonsum gibt es auch hier viele wissenschaftlich fundierte Gegenargumente. Befürworter;innen von Pornos sehen in ihnen nämlich vielmehr ein Mittel der sexuellen Aufklärung, das auch sexuelle Nischen bedienen und enttabuisieren kann. Dadurch soll das Wissen um eigene Vorlieben und daraus folgend das Spektrum der Möglichkeiten bei realen sexuellen Kontakten erweitert werden und zu einem erfüllteren Sexualleben führen. Auch die Treffsicherheit des Begriffs „Sucht“ in Bezug auf Pornokonsum wird wissenschaftlich noch debattiert. So stützen Studien die These, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen Masturbationshäufigkeit, Pornographie und erektiler Dysfunktion gibt (Vgl. Ley, Finn, Prause 2014/Prause, Pfaus 2015). Es wird darauf verwiesen, dass Pornogegner;innen oft einen sehr konservativen soziokulturellen Hintergrund hätten: Die Klassifizierung von Pornographie als Suchtgegenstand sei nur ein Mittel, um sie gesellschaftlich zu verteufeln. Tatsächlich, so die Befürworter;innen, geht es den Pornogegner;innen hauptsächlich um den Kampf gegen ein Verhalten, das von ihnen als sündhaft deklariert wird, um auf dieser Basis gesellschaftliche Randgruppen zu diskriminieren und vorgegebene „gesunde“ Werte zu installieren.

Durch diesen eher ideologischen Konflikt ist das Thema politisiert worden, der grundlegende Ansatz der Selbstverbesserung spricht auch das Narrativ der Alt-Right an. Bekannte Persönlichkeiten wie der rechte YouTuber Paul Joseph Watson sprachen sich in der Vergangenheit offen für den NoNutNovember aus und losgelöst von der Community rund um die Challenge gibt es eine eigenständige Bewegung, die ähnliche Ziele verfolgt: Das NoFap-Movement, eine Art Selbsthilfegruppe für selbsterklärte Pornographiesüchtige. Sie gründete sich 2011 auf Reddit in Reaktion auf eine chinesische Studie aus dem Jahr 2003, nach der der Testosteronhaushalt nach 7 Tagen ohne Masturbation bereits um 145% steigt. Neben der damit einhergehenden Steigerung der Libido erhoffen sich die Anhänger der Bewegung, bestärkt durch zahllose dahingehende Berichte ihrer Mitanhänger, mehr Zeit, Energie, Selbstvertrauen und Konzentration. Nach dem wissenschaftlichen Konsens gibt es allerdings zumindest bei Pornographie freier Masturbation keinerlei gesundheitliche Bedenken, ein verbessertes Selbstwertgefühl könne allerdings tatsächlich Folge einer Abstinenz sein. Die NoFap-Bewegung hat grundlegend drei Modi: im soft mode soll nur auf den Konsum von Pornographie verzichtet werden, Masturbation selbst ist weiter erlaubt. Im normal mode wird gänzlich auf Masturbation verzichtet und im hard mode schließlich auch auf den Orgasmus beim partnerschaflichen Sexakt. In keinem der drei Modi wird partnerschaftliche Zuwendung und körperliche Nähe abgelehnt, sexuelle Stimulation ist weiterhin erlaubt, sie soll allerdings nicht primär auf das Ziel eines Orgasmus ausgerichtet sein.

NoFap und der NoNutNovember stehen offensichtlich in direktem inhaltlichem Zusammenhang. Communities wie NoFap sind, je nach Forum, auch mit Teilen der Incel (Involuntary Celibate –unfreiwilliges Zölibat, eine Gruppe von Männern, die ihre Ablehnung bei Frauen rein auf ihr eigenes Äußeres beziehen. Frauen sollen dadurch pauschal als oberflächliche Opportunistinnen dämonisiert werden, wodurch die Bewegung ein Nährboden für Misogynie ist) oder MGTOW (Mengoing their own way – eine Community von Männern, die es sich zum Ziel gesetzt haben, ihr Leben nach Möglichkeit ohne jeglichen Kontakt zu Frauen zu gestalten)-Bewegung vernetzt und natürlich sind die Teilnehmer des NoNutNovember eine naheliegende Zielgruppe wenn es darum geht, neue Mitstreiter für diese Bewegungen zu rekrutieren. Deren Narrativ ist, dass wir in einer matriarchalen Gesellschaft leben und diese unter anderem durch Sexualität, also auch Pornographie, Macht auf die unterdrückte Männlichkeit ausübt. Das steht aber im starken Gegensatz zu eindeutig feministischen Argumenten, beispielsweise das (Wieder)herstellen eines realistischen Frauenbilds in Hinblick auf Sexualität durch die Abkehr von Pornos, wie sie von Seiten wie nonutnovember.org angeführt werden stehen. Die überwältigende Mehrheit der NoNutNovember-Community betrachtet den Monat allerdings nur im Licht der jährlichen Herausforderung sowie des Aufmerksamkeitserregens auf die Probleme der Pornographie und lehnt Strömungen wie Incel grundlegend ab. Letztendlich muss jeder für sich wissen, ob und wieweit er (oder sie) sich mit dem Thema beschäftigen will. Vielleicht sind positive Ergebnisse tatsächlich realistisch, vielleicht auch übertrieben dargestellt oder schlichte Placeboeffekte. Die möglichen Gefahren exzessiven Pornokonsums sollten jedoch zumindest mit Aufmerksamkeit bedacht werden und eine gewisse Zeit der Enthaltsamkeit mit dem Ziel, seine Energie auf produktivere Dinge zu fokussieren, ist eine Herausforderung an die eigene Willensstärke. Nicht jedes Thema ist automatisch Politik und man sollte vielleicht wegen ein paar schlechter Äpfel (oder in diesem speziellen Fall vielleicht Nüsse) auch nicht direkt den ganzen Baum absägen.

Text: Robert Freund
Bild: u/Pablo-Amido

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1 Comment

  1. Der Artikel ist etwas älter als zwei Jahre und ich bin zufällig nochmal auf die von mir angeführte Gegenstudie von Prause (2015) der Pro-Masturbations Position gestoßen. Tatsächlich wurden die Ergebnisse derart stark missrepräsentiert, dass das einzig relevante Ergebnis der Studie der Nachweis der Habituation, also der Gewöhnungseffekt (der Teil des Suchtprozesses ist), war. Zu diesem Ergebnis sind sechs verschiedene Antwortstudien gekommen:
    1. Decreased LPP for sexual images in problematic pornography users may be consistent with addiction models. Everything depends on the model. (Commentary on Prause 2015), Mateusz Gola
    2. Neuroscience of Internet Pornography Addiction: A Review and Update (2015), Love et. al
    3. Neurobiology of Compulsive Sexual Behavior: Emerging Science (2016), Kraus
    4. Should compulsive sexual behavior be considered an addiction? (2016), Kraus
    5. Is Internet Pornography Causing Sexual Dysfunctions? A Review with Clinical Reports (2016), Park et. al
    6. Conscious and Non-Conscious Measures of Emotion: Do They Vary with Frequency of Pornography Use? (2017), Kunaharan

    Ich habe bezüglich eines anderen Themas nochmal zu No-Fap recherchiert und es gibt keine einzigen seriösen wissenschaftlichen Quellen, die die Gefahren von Internetpornographie abstreiten.


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