Glitzer, Glanz und Gloria oder Folter, Kastration und Todesstrafe?!

*****Triggerwarning: Diskriminierung, Hate-Crime, Folter, Todesstrafe******

In allen öffentlichen Einrichtungen, den Fenstern deiner Stadt und den Logos aller Unternehmen findest du Regenbögen. Aus sämtlichen Ecken deines Stadtparks, in den Clubs und dem Schlafzimmer deiner Nachbar:innen erklingen Britney Spears, Lady Gaga, und Girl in Red. Und irgendwie laufen permanent viele glitzernde Menschen in unterschiedlich bunten Flaggen mit “Love is Love”-Schildern durch die Straßen. Das kann ja nur Eines bedeuten: Richtig, es ist wieder Pride Month. 

Für all diejenigen, die noch hinter dem Mond leben: Während des Pride Months kommen mehr oder weniger weltweit Menschen zusammen, die sich dem LGBTQIA+- Spektrum zugehörig fühlen. Sie feiern die Freiheit, sie selbst sein zu können und die Personen zu lieben, die sie wollen, unabhängig vom Gender*. Der Pride Month ist in der Theorie eine Aneinanderreihung an Parties, Lebensfreude und Liebe. Aber eben nur in der Theorie. 

Es ist nicht alles Gold, was glänzt… oder so. Der ursprüngliche Gedanke des Pride Month ist zwar die Feier der unbedingten Liebe und Sichtbarkeit, dennoch wird dieser oftmals von kapitalistischen Grundgedanken überschattet.**

Abgesehen davon haben wir im Juni das Gefühl einer heilen Welt, in der alle leben und lieben dürfen, wen und wie sie wollen. In Deutschland wird Homosexualität nicht mehr bestraft (allerdings auch erst seit 1994 nicht mehr) und gilt auch nicht mehr als psychische Krankheit (auch erst seit Ende der 70er Jahre). Menschen in Deutschland dürfen sich seit 2017 aussuchen, wen sie heiraten, egal ob Frau, Nicht-Binär oder Mann [1].

Queere Personen werden also gar nicht mehr diskriminiert. Schon gar nicht in der westlichen Welt.

  • Oder?

Leider ist das nicht der Fall. Während wir oftmals, und nicht nur im Juni, das Gefühl haben, dass die Gesellschaft im Jahr 2022 nicht-heteronormative Lebensformen akzeptiert, so sieht die Realität anders aus. Wir haben im Folgenden wichtige Studienergebnisse für euch zusammengefasst: 

Während in Deutschland im Juni Regenbogenflaggen gehisst werden, werden andere Menschen in einem Großteil der Welt für ihre sexuelle Orientierung weiterhin diskriminiert, ausgeschlossen und bestraft. Dazu gehört im Übrigen auch das vermeintlich fortschrittliche Amerika. Der Westen, so sehr er sich selbst oft feiert, ist gar nicht so Queer-Freundlich wie er eigentlich sein sollte.

So soll es zum Beispiel in Florida ab Juli, passend zum Ende des Pride Month, ein Gesetz geben, dass es verbietet in Schulen über Sexualität und Gender-Identitäten aufzuklären. Begriffe wie Trans, Bi, Schwul oder Lesbisch sollen dabei in Klassenzimmern bis zur 2. Klasse verboten werden. Sollte eine Lehrkraft diese Wörter doch im Unterricht verwenden, können die Eltern der Kinder die Schule verklagen [4]. Eine harte Realität in der Nation, die sich selbst als “Land der Freiheit” bezeichnet. 

Die Begründung des Gesetzentwurfs liegt in der Angemessenheit. Hierbei wird argumentiert, dass es unangemessen und verwirrend sei, Zweitklässler:innen Sexualität und Gendern näherzubringen. Auch nicht-binäre Geschlechtsidentitäten sind unerwünscht im Klassenzimmer, weil Darstellungen nicht-binärer Personen bei den Kindern für Zweifel sorgen sollen [5].

“Worin liegt die Relevanz für die Mehrheit der Bevölkerung? Warum betrifft das auch mich als nicht-queere Person?

Stellen wir uns vor, es gäbe einen Gesetzesentwurf, der das Schulfach Mathematik und die Verwendung des Dreisatz verbieten würde. Natürlich echauffieren wir uns täglich darüber, dass wir seit der Oberstufe weder Kurvendiskussion noch Integralrechnung verwendet haben. Dennoch wären vermutlich wenig Menschen über einen Verbot des Schulfachs erfreut. 

So ähnlich ist es auch bei dem Grundwissen rund um Themen der sexuellen Orientierung, Genderidentität usw. Ja, vermutlich wirst Du als heterosexuelle cis-Person wenig direkten Gebrauch im Umgang mit Dir selbst davon machen.

Stell dir aber einmal vor, du dürftest nicht über deine Eltern reden, über deine Geschwister, deine Großeltern, bzw. ein Familienmitglied sprechen. So geht es bald Kindern mit Familienmitgliedern aus der LGBTQIA+-Community in Florida. Sie dürfen dann nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt über Familienausflüge, Geburtstage oder Feiertage berichten bzw. nur eingeschränkt. Was macht das mit einem Kind? 

Stell Dir vor, du dürftest nicht über das reden, was dich zum Teil als Person  ausmacht, worüber du dich definierst und was wie Herz und Hirn zu dir gehört. Würde es dir gut gehen? 

Vermutlich eher nicht. 

Stell Dir vor, du würdest von Anfang an in der Schule das Gefühl vermittelt bekommen, dass so wie Du vielleicht bist und wen du liebst, es nicht “richtig” ist. 

Stell Dir vor, du wirst für etwas verurteilt wofür du nichts, aber auch gar nichts kannst und woran du auch nichts ändern kannst. 

Wir, die Autor:innen können an dieser Stelle mit Herzblut sagen, dass ein offener und wertschätzender Umgang mit Sexueller Orientierung und Genderidentität uns etliche Jahre an Selbstreflexion, Hinterfragen, Schlaflosigkeit und auch Scham erspart hätte.

Neben einem Westen, der sich gern ein Regenbogen Cape umhängt und “stolz” in die Sonne lacht, gibt es noch das genaue Gegenteil: die Staaten, in denen Du für deine Sexuelle Orientierung verfolgt wirst und neben Peitschenhieben und Gefängnisstrafen auch mit dem Tod bestraft wirst.

Yulia Tsvetkova, eine russische Aktivistin, Künstlerin und Theaterregisseurin wird wegen ihrer selbst erstellten Kunst und Arbeit ständig belästigt. Neben Morddrohungen per Telefon und Brief, hat auch die russische Regierung ein großes Problem mit der Arbeit Tsvetkovas [6].

Seit 2019 wird Tsvetkova  u.a. wegen der Vulva-Zeichnungen strafrechtlich verfolgt. Ihr wird vorgeworfen gegen §21 des Gesetzbuches für Ordnungswidrigkeiten zu verstoßen. Die Zeichnungen werden als “homosexuelle Propaganda” betitelt. Weiterhin wirft man Tsvetkova vor, Werbung  für homosexuelle Beziehungen über  Social-Media-Kanal VKontakte zu machen; laut russischem Gesetz strafbar, wenn es an Minderjährige gerichtet ist. Der Kanal ist aber mit 18+ gekennzeichnet, und somit gesetzeskonform.

Nach §242 (3b) beschuldigt man die Aktivistin der Herstellung und Verbreitung pornografischen Materials. Damit sind ihre Zeichnungen des weiblichen Körpers gemeint, um die Rolle der Frau in den sozialen Medien zu stärken.

Trotz all des Gegenwinds den Yulia Tsvetkova erfährt, hat sie ihre Arbeit noch nicht aufgeben und unterstützt die LGBTQIA+- Community weiterhin unermüdlich mit ihrer aufklärenden Kunst. 

Falls ihr Interesse habt euch näher mit ihrer Kunst auseinander zu setzen könnt ihr hier vorbeischauen.

Die Anschuldigungen gegen Tsvetkova sind oft nicht richtig vom Gesetz gestützt oder werden aufgebauscht. Mit ihrer Arbeit versucht Tsvetkova lediglich Menschen zu helfen und über das Facettenreichtum sexueller Orientierung aufzuklären. 

Neben heftiger Kritik an LGBTQIA+-Aktivist:innen ist auch die Pride Parade unerwünscht in Russland. Das Event ist in Russland schon seit längerem Angriffen ausgesetzt, noch dazu erfahren die Teilnehmer:innen und Organisator:innen heftige Kritik von Moskauer Bürgermeister Yuri Luzhkov, der ein Verbot der Pride Parade fordert.  Zum ersten mal fand die Parade 2006 statt, damals noch in sehr kleinem Rahmen. Die Demonstrierenden versammelten sich vor dem Kreml und verlangten eine bessere Behandlung von LGBTQIA+ sowie Gesetzesanpassungen. Die letzte offizielle Pride Parade fand 2011 statt und wurde bereits nach wenigen Minuten von Gegner:innen der Bewegung boykottiert. Jedoch gibt es natürlich immer noch queere Veranstaltungen [8]. 

Das Attackieren und Boykottieren einer der wichtigsten Veranstaltungen für die queere Community ist mehr als ein Armutszeugnis. Es wird deutlich, dass Russland weder die Aufklärung über LGBTQIA+ noch die Community an sich unterstützt. Umso wichtiger ist es von Außen zu helfen und den queeren Menschen in Russland zu zeigen, dass sie trotz aller Kritik nicht alleine sind.

Ein weitaus düsteres Bild zeichnet sich im Iran ab. Dort wurde ein:e LGBTQIA+ Aktivist:in mit der Todestrafe bedroht. Zahra Sedighi-Hamadani ist eine Gender-Nonkonforme Aktivist:in, welche:r in einem Iranischen Gefängnis nähe Urmia für Sexualität, Geschlechtsidentität und Aufklärungsarbeiten festgehalten wurde. In Gefangenschaft war Sedighi-Hamadani intensiven Verhören durch die Revolutionsgarde ausgesetzt. Beleidungungen, Beschimpfungen, Drohungen der Todesstrafe – alles aufgrund der reinen Identität. 

Die Anschuldigungen lauten: Förderung von Verdorbenheit auf Erden und Kommunikation mit Medien der Gegner der Islamischen Republik Iran sowie Förderung des Christentums [7]. Außerdem musste Zahra Folter, die u.a. Elektroschocks, Schläge und verlängerte Einzelhaft umfasste, durchstehen – Taten, die gegen das uneingeschränkte Verbot von Folter und anderen Handlungen verstoßen [9].

Übersicht über ein Zahlen der Gewaltdelikte
In diesen Ländern ist die Todesstrafe der Mitglieder der LGBTQIA+ Community gesetzlich verankert

Dies sind einige, aber leider noch lang nicht alle Beispiele von Diskriminierung und Gräueltaten, die queere Menschen durchleben müssen. Oft wird die LGBTQIA+-Community als ein Haufen glücklicher und glitzernder Paradiesvögel wahrgenommen. Während das für einige glückliche Personen vielleicht der Fall ist, so sieht die Realität für viele Mitglieder der Community anders aus. Hass auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlich starken Ausprägungen steht nach wie vor an der Tagesordnung. 

Es reicht nicht, einmal im Jahr einen Monat zu haben, in dem Regenbögen das Zentrum der Aufmerksamkeit sind. 

Es reicht nicht, wenn Du als vermeintlicher Ally in queere Clubs gehst, weil Dir die Musik und die Stimmung besser gefällt. 

Es reicht nicht zu sagen, dass das eigene Land ja vermeintlich weit ist, weil es ja die “Homoehe” gibt. 

Solang Personen auf Basis ihrer Gender-Identität und der Personen, die sie lieben, diskriminiert, verfolgt, gefoltert, und ermordet werden, sind wir weit weg von einer Gesellschaft, die sich als fortschrittlich bezeichnen darf. 

Reflektiere Deine Internalisierten diskriminierenden Gedanken und Stereotype. 

Informiere Dich. Bilde Dich fort. Hab ein bisschen mehr Verständnis.

Werde aktiv als Ally und steh hinter den queeren Menschen. 

Begegne Menschen mit Respekt, Offenheit, Empathie und Wertschätzung. 

Autor:innen: Hanna Kalf & Ilka Reichelt

Design/Illustration: Annabella Bauer, Hanna Kalf, Ilka Reichelt

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*Mehr Details sowie Projekte in Sachsen findest Du hier: https://rabbaz-magazin.de/lgbtq-god-save-the-queer/

**Der vorliegende Artikel konzentriert sich weniger mit der kapitalistischen Ausnutzung des Pride Month. Sollte Dich das interessieren, empfehlen wir Dir an dieser Stelle folgenden Artikel: https://rabbaz-magazin.de/alle-jahre-wieder-heucheleimonat/

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Quellen: 

[1] https://handbookgermany.de/de/rights-laws/lgbtiq.html

[2] https://www.wien.gv.at/menschen/queer/pdf/eu-lgbt-survey.pdf

[3]https://www.lsvd.de/de/ct/3168-Was-denkt-man-in-Deutschland-ueber-Lesben-Schwule-bisexuelle-trans-und-intergeschlechtliche-Menschen#LGBT-Pride-2021-global-survey

[4] https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/florida-sexuelle-orientierung-101.html 

[5]https://www.nbcnews.com/nbc-out/out-politics-and-policy/floridas-dont-say-gay-bill-actually-says-rcna19929 

[6]https://www.queeramnesty.de/aktionen/detail/2022/russische-foederation-prozess-gegen-lgbti-aktivistin-wird-fortgesetzt 

[7]https://www.queeramnesty.de/aktionen/detail/2022/iran-lgbti-aktivistin-droht-todesstrafe 

[8]https://en.wikipedia.org/wiki/Moscow_Pride#Moscow_Pride_2011 

[9]https://menschenrechte-durchsetzen.dgvn.de/menschenrechte/folterverbot/ 

https://www.lsvd.de/de/ct/2445-Homophobe-Gewalt#wie-viel-hasskriminalitaet-gegen-lsbti

https://www.nbcnews.com/nbc-out/out-news/anti-gay-hate-crimes-fell-slightly-2020-anti-trans-crimes-rose-fbi-say-rcna1846

https://hatecrime.osce.org/russian-federation

https://www.welt.de/reise/Fern/article206490685/Gay-Travel-Index-In-15-Laendern-droht-Homosexuellen-Todesstrafe.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Homosexualität_in_Tschetschenien

https://spartacus.gayguide.travel/gaytravelindex.pdf

https://www.welt.de/reise/Fern/article206490685/Gay-Travel-Index-In-15-Laendern-droht-Homosexuellen-Todesstrafe.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Gesetze_zur_Homosexualität

Wie es weiter geht

Zwei Jahre ist es her, da sprachen wir vom ersten Mal. Mittlerweile sind wir bei Ausgabe drei und sind den Kinderschuhen so ziemlich entwachsen.

„Tabu und Protest“ ist das diesjährige Titelthema und damit haben wir unseren Leitspruch „Dont keep it shut“ vielleicht überhaupt das erste Mal so richtig Ernst genommen. Wir haben über Themen, die durch Unterdrückungsverhältnisse strukturiert sind und unsere Perspektiven nachhaltig prägen recherchiert, geschrieben, illustriert und fotografiert.

Entstanden sind die gewohnten kurzen Texte von Periode bis zu Sterbehilfe, von Outing über Polygamie, aber eben auch ein Sonderthema mit 16 Seiten zu rechter Forschung in der Sozialwissenschaft, was uns an die Technische Universität in Chemnitz führte.

Wir wollen mit dieser Ausgabe wieder Unordnung im Unbehagen schaffen und gemeinsam den Diskurs des Miteinanders aufrechterhalten und durch diverse Perspektiven erweitern. 

Für eine freie und gleichberechtigte Willensbildung und Mitbestimmung in gesellschaftlichen Diskursen braucht es Stimmen und Gesichter. Wir geben ihnen Platz.

Text: Svenja Jäger
Bild: Julia Küttner

Das Konglomerat der Kitschigkeit

Liebe Singles, egal, ob freiwillig oder nicht, es ist wieder so weit: Der schlimmste Tag des Jahres steht vor der Tür. Für die einen ist es der Tag der Liebe, für die anderen nichts weiter als der umsatzstärkste Tag der Blumenlobby. Kaum vergessen sind die Tage, an denen man als einziger Single der Klasse ohne einen sogenannten „Valentinsgruß“ beschämt durch die Gänge der Schule gelaufen ist, als sich die coolen Kids gegenseitig stolz die kleinen rosa Kärtchen zeigten. Mittlerweile ist man erwachsen und die Möglichkeiten den Tag des scheinbar unendlichen Glücks zu ignorieren unbegrenzt.

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Keine Nüsse im November

Der „NoNutNovember“. Nut ist in dem Zusammenhang ein englischer Slangbegriff, der den männlichen Samenerguss meint (referierend auf die Hoden als „Nüsse“). Der Name ist selbsterklärend: Ziel der Herausforderung ist es, im gesamten Monat November keinen Orgasmus zu haben und die dadurch eingesparte Zeit und sexuelle Energie auf sinnvollere Art zu nutzen.

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Verloren im Whatsapp-Nirwana

Manchmal ist es zu schön, um wahr zu sein. Man lernt jemanden kennen, fühlt sich wie auf Händen getragen und findet den Glauben an die wahre große Liebe wieder. Das sagt dir nicht nur dein Herz, sondern vor allem dein Kopf. War doch sonst der natürliche Lauf der Dinge ein anderer gewesen. Zwischen „Ich mag dich“ und Nachrichten, die unbeantwortet im Nirwana verschwanden, lagen oft nur wenige Wochen.

Doch diesmal wird alles anders. Mit Engelszungen rede ich auf mich ein und versuche mich vergebens davon zu überzeugen, dass diese Talfahrt endet. Hier und vor allem mit dir. Hattest du mir doch das Blaue vom Himmel versprochen, sitze ich nun seit mittlerweile fast einer Woche hier und starre auf mein Telefon. Denn du ghostest mich. Mal wieder. Ein Phänomen, das vor Unselbstständigkeit, Mangel an Selbstbewusstsein und Feigheit nur so strotzt. Es ist die unehrlichste und vor allem unaufrichtigste Art jemanden in den Wind zu schießen.

Zur Definition: Jemanden zu ghosten, bedeutet den*die andere*n zu ignorieren. Keine Nachricht wird mehr beantwortet, kein Anruf entgegengenommen. Man verschwindet von der Bildfläche des*der anderen, ohne offenstehende Fragen oder den Elefanten im Raum besprochen zu haben. Man wird zum nicht greifbaren Geist.

Und das ist die Stelle, an der ich alle Leser*innen in meinem Leben willkommen heiße.

Ich bin wütend, richtig wütend. Die Frage, was man damit bezwecken will jemanden auf „gelesen“ stehenzulassen, obwohl der eigenen Wahrnehmung nach zu urteilen, doch alles bestens war, ist mir unbegreiflich. Hatte ich mich doch selbst immer als unkompliziert wahrgenommen, stelle ich jetzt nicht nur mich infrage, sondern auch meine Beziehungsfähigkeit. Das kratzt nicht nur an meinem Ego, sondern auch an meinen sozialen Skills, die ich bisher für solide erachtet hatte. Ich ertappe mich dabei, wie ich alle 20 Minuten meine letzten Nachrichten durchschaue und sehe wie sie dort einsam und verlassen mit zwei blauen Haken im Whatsapp-Nirwana vor sich hindümpeln. Durch den Kosmos der Kommunikation irrend und darauf wartend, dass sie empfangen und abgeholt werden.

In solchen Situationen frage ich mich immer wieder, was die Beweggründe dafür sind dem*der anderen nicht sagen zu können, dass man keine Lust auf weiteren Kontakt hat. Ist es die Angst vor der „Crazy-Ex-Girlfriend“ oder die eigene Inkompetenz, die hier Bände spricht? Für Betroffene des Ghostings brechen je nach Gefühlslage kleinere oder größere Welten zusammen. Besonders unfair an dieser Situation ist, dass dem*der Betroffenen die Möglichkeit genommen wird mit der Affäre, Beziehung oder ähnlichem Techtelmechtel abzuschließen. Ständig kreisen die Gedanken um Szenarien, die darauf hoffen lassen, dass sich das verschwundene Gegenüber doch noch einmal meldet. Vergebens. Immer vergebens. Entsprechend muss der Abnabelungsprozess alleine gestartet und abgeschlossen werden. Es ist ein fucking Marathon, bei dem man den Startschuss verpasst hat und die vollen 42 km am Ende alleine läuft. Denn keiner weiß, wann die Geschichte nun endet, ob sie überhaupt endet oder ob sie schon lange vorbei war.

Ich für meinen Teil habe das Verständnis für die Generation „Block him“ verloren. Es kann keinen Grund dafür geben, den*die andere*n mit seinen Gefühlen alleine zu lassen. Keine Angst, kein Mangel an sozialen Fähigkeiten kann so groß sein, dass man einfach verschwindet. Ghosting ist das virtuelle, neumodische „Ich geh nur schnell Zigaretten holen“. Was damals schon die Hölle für alle Zurückgelassenen war, ist heute nicht minder schlimm. Auch wenn man es persönlich nicht schafft den anderen abzuschießen, ist ein Text, eine Nachricht oder eine DM doch das Mindeste, um allen Beteiligten ermöglichen zu können, sich auf den nächsten Fehlkauf in Sachen Liebe einzulassen.

In diesem Sinne appelliere ich an alle, die vorhaben sich ihrer eigenen Verantwortung zu entziehen. Sobald ihr eine emotionale oder auch nur körperliche Beziehung zu einem Menschen eingeht, ganz gleich, ob Freundschaft oder Affäre, tragt ihr nicht nur die Verantwortung für euch, sondern auch für euer Gegenüber. Man selbst möchte ja auch nicht so behandelt werden. Seid ehrlich, seid aufrichtig und ich verspreche das Leben wird es euch danken.

Text und Bild: Janna Meyer

Die in dieser Kolumne dargestellten Sichtweisen sind allein der Autorin zuzuordnen und spiegeln nicht die Meinung der gesamten Redaktion wider.