Treuhand: damals, heute und morgen?

Via Lewandowsky – „Die oder wir“ 

1989 fiel die Mauer. Endlich konnte man den Westen aus nächster Nähe sehen – das verschlossene Land, in dem die Möglichkeiten endlos schienen. Einer der Gründe für den Fall der Mauer und somit auch des deutschen Ostens war sein ökonomischer Zusammenbruch, welcher aus der problematischen Wirtschaftspolitik der ehemaligen DDR resultierte. Die Union mit dem Westen setzte auch eine Wirtschaftsunion nach den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft voraus. Das bedeutete vor allem, die Volkseigenen Betriebe (VEB), welche ab 1948 im Rahmen der Enteignung und Verstaatlichung von Unternehmen entstanden, zu privatisieren oder stillzulegen. Eigens für diese Aufgabe wurde die sogenannte Treuhandanstalt oder auch kurz Treuhand gegründet. Die Ziele der Anstalt waren groß. So sollte diese nicht nur möglichst ertragsorientiert hohe Privatisierungserlöse erzielen, sondern auch gemeinwohlorientiert möglichst viele Arbeitsplätze erhalten. Die Realität sah anders aus: Fördermittel wurden missbraucht und es kam zu Fällen von Wirtschaftskriminalität. Menschen verloren nicht nur ihre Arbeit sondern ganze Existenzen gingen zugrunde – Familien brachen infolge dessen auseinander. Der Mauerfall hinterließ das Land weiterhin für viele Jahre gespalten.

Viele Familien, die ihren Ursprung in den „neuen Bundesländern“ haben, verbindet die überwiegend schmerzliche Erinnerung an das gesellschaftliche Großthema „Treuhand“. Dieser bislang wenig betrachteten Thematik nimmt sich dieses Jahr die POCHEN Biennale in Chemnitz an und will in Zusammenarbeit mit dem Museum für Werte aus Berlin der Frage „Wie schreiben sich tiefgreifende Transformationsprozesse in die Gesellschaft ein?“ nachgehen, sowie individuelle Lebensgeschichten und Anekdoten präsentieren. Mithilfe der multimedialen Kunst als Sprachform für lokale Geschichten und Schicksale sollen Räume zur Reflexion sowie Dialoge und Diskurse entstehen. So können ohne Worte intensive persönliche Erfahrungen und Emotionen durch Kunst für die BesucherInnen erlebbar gemacht werden. In der Ausstellung wird besonders die Wirkungsgeschichte der Treuhand in der Gegenwart und Zukunft betrachtet. Dabei wird sich in den Werken viel mit Sprache auseinandergesetzt: Terminologien – Sätze, Sprüche und Kampagnen – die sich in die Köpfe der BürgerInnen eingebrannt haben, sind beispielsweise Teil der Arbeit Liquidieren von Ute Richter, welche Synonyme für das Verb „liquidieren“ auflistet. Außerdem findet man viele (absurde) Maschinen in der Ausstellung, die symbolisch für die Geschichten der verloren gegangenen Werkstätten der Betriebe und Unternehmen stehen. In 21 Druckgrafiken des Werkes Faustpfad, Treuhand und die unsichtbare Hand stellt Andreas Siekmann den historischen Ablauf der Jahre 1990 bis 1994 in Piktogrammen dar und bringt so Aspekte von ökonomischen Prozessen ins Bild, die zu komplex sind, als dass die betroffenen BürgerInnen sie hätten verstehen können und somit im Dunkeln gelassen wurden. In mehreren freien Arbeiten wird deutlich, dass Veränderungsprozesse die Gesellschaft bis heute begleiten und das Leben gestalten. Sie zeigen auch, dass diese Prozesse nicht nur lokal gebunden sind, sondern auch Andere betreffen, weshalb die Ausstellung auch durch KünstlerInnen aus Griechenland, Russland, Slowenien und Italien in einen internationalen Kontext gesetzt wird.

Ein weiterer Teil erzählt Geschichten aus der Region. Lokale Personen wurden eingebunden und eine Reflexionsfläche geboten, aber auch ein Diskussionspodium.

Ich bin mir sicher, dass viele beim Lesen des Titels eher wenig Bezugspunkte zu sich und zu ihrem unmittelbaren Umfeld gesehen haben. Ich bin mir auch sicher, dass sich dieses Gefühl innerhalb der weiteren Zeilen verstärkt hat. Daher möchte nicht nur ich, sondern auch das Team der POCHEN Biennale, zeigen, dass das geschichtliche Überthema Treuhand auch für die junge Generation wichtig bleibt und in Zukunft Bedeutung finden wird: Sabine Maria Schmidt, Kuratorin der Ausstellung, ist der Meinung, dass es überhaupt erstmal wichtig ist „Ausstellungen zu besuchen, um wahrzunehmen, was in einer Stadt gemacht wird“. Auch Ökonomie und Ökologie sind wichtige Themen für die Zukunft und werden oft von anderen Themen überlagert, sagt sie. Benjamin Gruner, der die Leitung der POCHEN Biennale übernimmt, sieht die Auseinandersetzung mit der Treuhandanstalt als „Reflexionsmoment, warum der Lebensraum so ist wie er ist“. Denn die junge Generation erlebt Ostdeutschland anders als Westdeutschland und umgekehrt. Veränderungen und Transformationen sind Prozesse, die immer am Laufen sind. Auch jetzt während der Corona-Pandemie. Man sollte diese Phasen des Umbruchs als Gestaltungsprozess wahrnehmen und als Chance sehen, mit mehr Selbstbewusstsein Wünsche und Forderungen zu formulieren und zu kommunizieren, was für einen lebenswerten Raum gebraucht wird. Kurator Olaf Bender erinnerte sich an seine Jugend, als der Zweite Weltkrieg aufgearbeitet wurde und erst heute verstanden hat, dass unter der Oberfläche ganz andere Aspekte eine Rolle spielen: Es geht um die Vermittlung ganz bestimmter Erfahrungen. Denn „wenn man sich nicht zu Wort meldet und einfordert, was man möchte, dann wird einem unterm Arsch alles weggeklaut.“ Die Ausstellung soll dazu ermutigen, unsere Stimmen zu ergreifen, denn wenn wir das nicht tun, tun es andere und verkaufen es als unsere Meinung. Jan Stassen vom Museum für Werte musste feststellen, dass „der Schmerz größer ist, als man denkt“. Darüber zu sprechen ist wichtig, denn viele Identitäten leben heute unter uns und tragen diesen Schmerz mit sich.

Also: sprecht mit euren Familien über ihre Vergangenheit, denn nur so kann ein Verständnis für ihr Schicksal und das eurer Familie gewonnen werden. Und wenn ihr vielleicht aus dem Westen kommt, hoffe ich, dass ihr einen Anreiz gefunden habt euch die Geschichte der Region, in der ihr lebt, kennenzulernen.

Bis Sonntag, 1. November 2020, könnt ihr noch die Ausstellung im Wirkbau besuchen und euch mithilfe multimedialer Kunst auf eine Reise in die Vergangenheit, durch die Gegenwart und in die Zukunft begeben.

Text und Foto: Linda Kolodjuk

Spät…später…Späti!

Manchmal hat man was vergessen. Manchmal ist es spontan. Manchmal hat man einfach Bock. Meistens ist es zu spät. Wenn die Läden zu haben und man doch noch was braucht, ist ein Spätverkauf der Retter in der Not. Bei Heißhunger in der Nacht, einer Zahnbürste für spontanen Besuch und trockener Kehle auf dem Heimweg. In den meisten Großstädten kein Problem, aber in Chemnitz? Das Sächsische Ladenöffnungsgesetz* macht uns einen Strich durch die Rechnung und nachdem der Döner-Drive-In als traditionelle letzte Einkehr einer Baustelle weichen musste, sieht es nun besonders finster aus.

Das haben auch Anna und Karin festgestellt. Beide studieren seit einem Jahr IKK im Master an der TU Chemnitz und wollten das nicht so stehen lassen. Durch Rumfragen und einen glücklichen Zufall sind sie an die Räumlichkeit an der Jakobstraße 42/Ecke Zietenstraße geraten. Einige kennen den Laden bereits als „Späti“. Dieser entstand vor etwa zwei Jahren im Rahmen der Dialogfelder als ortsspezifische Installation unter dem Namen „Kiosk“. Johannes Specks und Marie Donike wollten den Chemnitzerinnen und Chemnitzern für eine Woche einen Ort schenken, an dem Menschen sich begegnen und ins Gespräch kommen – zwischen Bockwurst, Bier und Süßwaren.

Diese Vision greifen Anna und Karin auf. Angeschlossen an den Klub Solitaer e.V. wollen sie ihrem Geschäft einen gemeinnützigen Rahmen geben, denn ein Späti ist mehr als nur ein Ort für sofortigen Bedarf. Er soll auf niederschwellige Weise zum Verweilen und Vermischen verschiedenster Menschen einladen. Außerdem soll die Räumlichkeit auch für Veranstaltungen genutzt werden können. Weiterhin soll das Sortiment partizipativ gestaltet werden: auf Tapeten und über Einwurfboxen können Wünsche geäußert werden, was im Späti verkauft werden soll. So kann jeder in in die Entwicklung des Ladens einbezogen werden.

Zum Glück soll Annas und Karins Laden (der übrigens richtig der „Späti“ heißt) dauerhaft geöffnet sein. Vorerst Sonntag und Montag, damit auch an diesen Tagen etwas auf dem Sonnenberg los ist, in Zukunft auch an weiteren Tagen, wenn sich noch weitere Späti-Begeisterte finden, die das Geschäft unterstützen wollen. Die wichtigste Frage aber: Auch in der Nacht? Bis Mitternacht ist immer jemand vor Ort, danach sind die beiden über das Spätiphon (015735428699) erreichbar und können Auskunft geben, ob danach noch verkauft wird. Mit dem sogenannten „Dampfnudel-Trick“, wie Karin ihn genannt hat, kann man das Sächsische Ladenöffnungsgesetz geschickt umgehen, denn es gibt immer ein Gericht – damit ist der „Späti“ auch ein Imbiss und darf länger verkaufen.

*(Öffnungszeiten für Läden gelten von Montag bis Freitag 6 bis 22 Uhr)

Text: Linda Kolodjuk
Bild: Rose Kuhn