Glitzer, Glanz und Gloria oder Folter, Kastration und Todesstrafe?!

*****Triggerwarning: Diskriminierung, Hate-Crime, Folter, Todesstrafe******

In allen öffentlichen Einrichtungen, den Fenstern deiner Stadt und den Logos aller Unternehmen findest du Regenbögen. Aus sämtlichen Ecken deines Stadtparks, in den Clubs und dem Schlafzimmer deiner Nachbar:innen erklingen Britney Spears, Lady Gaga, und Girl in Red. Und irgendwie laufen permanent viele glitzernde Menschen in unterschiedlich bunten Flaggen mit “Love is Love”-Schildern durch die Straßen. Das kann ja nur Eines bedeuten: Richtig, es ist wieder Pride Month. 

Für all diejenigen, die noch hinter dem Mond leben: Während des Pride Months kommen mehr oder weniger weltweit Menschen zusammen, die sich dem LGBTQIA+- Spektrum zugehörig fühlen. Sie feiern die Freiheit, sie selbst sein zu können und die Personen zu lieben, die sie wollen, unabhängig vom Gender*. Der Pride Month ist in der Theorie eine Aneinanderreihung an Parties, Lebensfreude und Liebe. Aber eben nur in der Theorie. 

Es ist nicht alles Gold, was glänzt… oder so. Der ursprüngliche Gedanke des Pride Month ist zwar die Feier der unbedingten Liebe und Sichtbarkeit, dennoch wird dieser oftmals von kapitalistischen Grundgedanken überschattet.**

Abgesehen davon haben wir im Juni das Gefühl einer heilen Welt, in der alle leben und lieben dürfen, wen und wie sie wollen. In Deutschland wird Homosexualität nicht mehr bestraft (allerdings auch erst seit 1994 nicht mehr) und gilt auch nicht mehr als psychische Krankheit (auch erst seit Ende der 70er Jahre). Menschen in Deutschland dürfen sich seit 2017 aussuchen, wen sie heiraten, egal ob Frau, Nicht-Binär oder Mann [1].

Queere Personen werden also gar nicht mehr diskriminiert. Schon gar nicht in der westlichen Welt.

  • Oder?

Leider ist das nicht der Fall. Während wir oftmals, und nicht nur im Juni, das Gefühl haben, dass die Gesellschaft im Jahr 2022 nicht-heteronormative Lebensformen akzeptiert, so sieht die Realität anders aus. Wir haben im Folgenden wichtige Studienergebnisse für euch zusammengefasst: 

Während in Deutschland im Juni Regenbogenflaggen gehisst werden, werden andere Menschen in einem Großteil der Welt für ihre sexuelle Orientierung weiterhin diskriminiert, ausgeschlossen und bestraft. Dazu gehört im Übrigen auch das vermeintlich fortschrittliche Amerika. Der Westen, so sehr er sich selbst oft feiert, ist gar nicht so Queer-Freundlich wie er eigentlich sein sollte.

So soll es zum Beispiel in Florida ab Juli, passend zum Ende des Pride Month, ein Gesetz geben, dass es verbietet in Schulen über Sexualität und Gender-Identitäten aufzuklären. Begriffe wie Trans, Bi, Schwul oder Lesbisch sollen dabei in Klassenzimmern bis zur 2. Klasse verboten werden. Sollte eine Lehrkraft diese Wörter doch im Unterricht verwenden, können die Eltern der Kinder die Schule verklagen [4]. Eine harte Realität in der Nation, die sich selbst als “Land der Freiheit” bezeichnet. 

Die Begründung des Gesetzentwurfs liegt in der Angemessenheit. Hierbei wird argumentiert, dass es unangemessen und verwirrend sei, Zweitklässler:innen Sexualität und Gendern näherzubringen. Auch nicht-binäre Geschlechtsidentitäten sind unerwünscht im Klassenzimmer, weil Darstellungen nicht-binärer Personen bei den Kindern für Zweifel sorgen sollen [5].

“Worin liegt die Relevanz für die Mehrheit der Bevölkerung? Warum betrifft das auch mich als nicht-queere Person?

Stellen wir uns vor, es gäbe einen Gesetzesentwurf, der das Schulfach Mathematik und die Verwendung des Dreisatz verbieten würde. Natürlich echauffieren wir uns täglich darüber, dass wir seit der Oberstufe weder Kurvendiskussion noch Integralrechnung verwendet haben. Dennoch wären vermutlich wenig Menschen über einen Verbot des Schulfachs erfreut. 

So ähnlich ist es auch bei dem Grundwissen rund um Themen der sexuellen Orientierung, Genderidentität usw. Ja, vermutlich wirst Du als heterosexuelle cis-Person wenig direkten Gebrauch im Umgang mit Dir selbst davon machen.

Stell dir aber einmal vor, du dürftest nicht über deine Eltern reden, über deine Geschwister, deine Großeltern, bzw. ein Familienmitglied sprechen. So geht es bald Kindern mit Familienmitgliedern aus der LGBTQIA+-Community in Florida. Sie dürfen dann nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt über Familienausflüge, Geburtstage oder Feiertage berichten bzw. nur eingeschränkt. Was macht das mit einem Kind? 

Stell Dir vor, du dürftest nicht über das reden, was dich zum Teil als Person  ausmacht, worüber du dich definierst und was wie Herz und Hirn zu dir gehört. Würde es dir gut gehen? 

Vermutlich eher nicht. 

Stell Dir vor, du würdest von Anfang an in der Schule das Gefühl vermittelt bekommen, dass so wie Du vielleicht bist und wen du liebst, es nicht “richtig” ist. 

Stell Dir vor, du wirst für etwas verurteilt wofür du nichts, aber auch gar nichts kannst und woran du auch nichts ändern kannst. 

Wir, die Autor:innen können an dieser Stelle mit Herzblut sagen, dass ein offener und wertschätzender Umgang mit Sexueller Orientierung und Genderidentität uns etliche Jahre an Selbstreflexion, Hinterfragen, Schlaflosigkeit und auch Scham erspart hätte.

Neben einem Westen, der sich gern ein Regenbogen Cape umhängt und “stolz” in die Sonne lacht, gibt es noch das genaue Gegenteil: die Staaten, in denen Du für deine Sexuelle Orientierung verfolgt wirst und neben Peitschenhieben und Gefängnisstrafen auch mit dem Tod bestraft wirst.

Yulia Tsvetkova, eine russische Aktivistin, Künstlerin und Theaterregisseurin wird wegen ihrer selbst erstellten Kunst und Arbeit ständig belästigt. Neben Morddrohungen per Telefon und Brief, hat auch die russische Regierung ein großes Problem mit der Arbeit Tsvetkovas [6].

Seit 2019 wird Tsvetkova  u.a. wegen der Vulva-Zeichnungen strafrechtlich verfolgt. Ihr wird vorgeworfen gegen §21 des Gesetzbuches für Ordnungswidrigkeiten zu verstoßen. Die Zeichnungen werden als “homosexuelle Propaganda” betitelt. Weiterhin wirft man Tsvetkova vor, Werbung  für homosexuelle Beziehungen über  Social-Media-Kanal VKontakte zu machen; laut russischem Gesetz strafbar, wenn es an Minderjährige gerichtet ist. Der Kanal ist aber mit 18+ gekennzeichnet, und somit gesetzeskonform.

Nach §242 (3b) beschuldigt man die Aktivistin der Herstellung und Verbreitung pornografischen Materials. Damit sind ihre Zeichnungen des weiblichen Körpers gemeint, um die Rolle der Frau in den sozialen Medien zu stärken.

Trotz all des Gegenwinds den Yulia Tsvetkova erfährt, hat sie ihre Arbeit noch nicht aufgeben und unterstützt die LGBTQIA+- Community weiterhin unermüdlich mit ihrer aufklärenden Kunst. 

Falls ihr Interesse habt euch näher mit ihrer Kunst auseinander zu setzen könnt ihr hier vorbeischauen.

Die Anschuldigungen gegen Tsvetkova sind oft nicht richtig vom Gesetz gestützt oder werden aufgebauscht. Mit ihrer Arbeit versucht Tsvetkova lediglich Menschen zu helfen und über das Facettenreichtum sexueller Orientierung aufzuklären. 

Neben heftiger Kritik an LGBTQIA+-Aktivist:innen ist auch die Pride Parade unerwünscht in Russland. Das Event ist in Russland schon seit längerem Angriffen ausgesetzt, noch dazu erfahren die Teilnehmer:innen und Organisator:innen heftige Kritik von Moskauer Bürgermeister Yuri Luzhkov, der ein Verbot der Pride Parade fordert.  Zum ersten mal fand die Parade 2006 statt, damals noch in sehr kleinem Rahmen. Die Demonstrierenden versammelten sich vor dem Kreml und verlangten eine bessere Behandlung von LGBTQIA+ sowie Gesetzesanpassungen. Die letzte offizielle Pride Parade fand 2011 statt und wurde bereits nach wenigen Minuten von Gegner:innen der Bewegung boykottiert. Jedoch gibt es natürlich immer noch queere Veranstaltungen [8]. 

Das Attackieren und Boykottieren einer der wichtigsten Veranstaltungen für die queere Community ist mehr als ein Armutszeugnis. Es wird deutlich, dass Russland weder die Aufklärung über LGBTQIA+ noch die Community an sich unterstützt. Umso wichtiger ist es von Außen zu helfen und den queeren Menschen in Russland zu zeigen, dass sie trotz aller Kritik nicht alleine sind.

Ein weitaus düsteres Bild zeichnet sich im Iran ab. Dort wurde ein:e LGBTQIA+ Aktivist:in mit der Todestrafe bedroht. Zahra Sedighi-Hamadani ist eine Gender-Nonkonforme Aktivist:in, welche:r in einem Iranischen Gefängnis nähe Urmia für Sexualität, Geschlechtsidentität und Aufklärungsarbeiten festgehalten wurde. In Gefangenschaft war Sedighi-Hamadani intensiven Verhören durch die Revolutionsgarde ausgesetzt. Beleidungungen, Beschimpfungen, Drohungen der Todesstrafe – alles aufgrund der reinen Identität. 

Die Anschuldigungen lauten: Förderung von Verdorbenheit auf Erden und Kommunikation mit Medien der Gegner der Islamischen Republik Iran sowie Förderung des Christentums [7]. Außerdem musste Zahra Folter, die u.a. Elektroschocks, Schläge und verlängerte Einzelhaft umfasste, durchstehen – Taten, die gegen das uneingeschränkte Verbot von Folter und anderen Handlungen verstoßen [9].

Übersicht über ein Zahlen der Gewaltdelikte
In diesen Ländern ist die Todesstrafe der Mitglieder der LGBTQIA+ Community gesetzlich verankert

Dies sind einige, aber leider noch lang nicht alle Beispiele von Diskriminierung und Gräueltaten, die queere Menschen durchleben müssen. Oft wird die LGBTQIA+-Community als ein Haufen glücklicher und glitzernder Paradiesvögel wahrgenommen. Während das für einige glückliche Personen vielleicht der Fall ist, so sieht die Realität für viele Mitglieder der Community anders aus. Hass auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlich starken Ausprägungen steht nach wie vor an der Tagesordnung. 

Es reicht nicht, einmal im Jahr einen Monat zu haben, in dem Regenbögen das Zentrum der Aufmerksamkeit sind. 

Es reicht nicht, wenn Du als vermeintlicher Ally in queere Clubs gehst, weil Dir die Musik und die Stimmung besser gefällt. 

Es reicht nicht zu sagen, dass das eigene Land ja vermeintlich weit ist, weil es ja die “Homoehe” gibt. 

Solang Personen auf Basis ihrer Gender-Identität und der Personen, die sie lieben, diskriminiert, verfolgt, gefoltert, und ermordet werden, sind wir weit weg von einer Gesellschaft, die sich als fortschrittlich bezeichnen darf. 

Reflektiere Deine Internalisierten diskriminierenden Gedanken und Stereotype. 

Informiere Dich. Bilde Dich fort. Hab ein bisschen mehr Verständnis.

Werde aktiv als Ally und steh hinter den queeren Menschen. 

Begegne Menschen mit Respekt, Offenheit, Empathie und Wertschätzung. 

Autor:innen: Hanna Kalf & Ilka Reichelt

Design/Illustration: Annabella Bauer, Hanna Kalf, Ilka Reichelt

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*Mehr Details sowie Projekte in Sachsen findest Du hier: https://rabbaz-magazin.de/lgbtq-god-save-the-queer/

**Der vorliegende Artikel konzentriert sich weniger mit der kapitalistischen Ausnutzung des Pride Month. Sollte Dich das interessieren, empfehlen wir Dir an dieser Stelle folgenden Artikel: https://rabbaz-magazin.de/alle-jahre-wieder-heucheleimonat/

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Quellen: 

[1] https://handbookgermany.de/de/rights-laws/lgbtiq.html

[2] https://www.wien.gv.at/menschen/queer/pdf/eu-lgbt-survey.pdf

[3]https://www.lsvd.de/de/ct/3168-Was-denkt-man-in-Deutschland-ueber-Lesben-Schwule-bisexuelle-trans-und-intergeschlechtliche-Menschen#LGBT-Pride-2021-global-survey

[4] https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/florida-sexuelle-orientierung-101.html 

[5]https://www.nbcnews.com/nbc-out/out-politics-and-policy/floridas-dont-say-gay-bill-actually-says-rcna19929 

[6]https://www.queeramnesty.de/aktionen/detail/2022/russische-foederation-prozess-gegen-lgbti-aktivistin-wird-fortgesetzt 

[7]https://www.queeramnesty.de/aktionen/detail/2022/iran-lgbti-aktivistin-droht-todesstrafe 

[8]https://en.wikipedia.org/wiki/Moscow_Pride#Moscow_Pride_2011 

[9]https://menschenrechte-durchsetzen.dgvn.de/menschenrechte/folterverbot/ 

https://www.lsvd.de/de/ct/2445-Homophobe-Gewalt#wie-viel-hasskriminalitaet-gegen-lsbti

https://www.nbcnews.com/nbc-out/out-news/anti-gay-hate-crimes-fell-slightly-2020-anti-trans-crimes-rose-fbi-say-rcna1846

https://hatecrime.osce.org/russian-federation

https://www.welt.de/reise/Fern/article206490685/Gay-Travel-Index-In-15-Laendern-droht-Homosexuellen-Todesstrafe.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Homosexualität_in_Tschetschenien

https://spartacus.gayguide.travel/gaytravelindex.pdf

https://www.welt.de/reise/Fern/article206490685/Gay-Travel-Index-In-15-Laendern-droht-Homosexuellen-Todesstrafe.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Gesetze_zur_Homosexualität

Nasskalt.

*****Triggerwarnung: Psychische Erkrankungen, Depression*****

Hier ist er. Der Winter. Lange Nächte, kurze Tage. Die Farbe des Himmels wechselt die Grautöne, die Lage des Wetters wechselt zwischen bewölkt, windig, Schneeregen und Schnee. Ich starre durch das Fenster nach draußen und mache eine gedankliche Notiz, meine Tageslichtlampe zu reaktivieren.

 

“Mit Beginn des Novembers fühle ich mich auf seltsame Weise zu dem dunklen Teil meiner Garderobe hingezogen. Ich habe viel zu tun, aber bleibe lieber liegen. Statt nach dem ersten Klingeln des Weckers aufzustehen, drücke ich die Schlummertaste 100 mal und prokrastiniere so lang vor mich hin bis ich mir einreden kann, dass es eh nicht mehr viel bringen würde noch mit Unisachen anzufangen. Meine Konzentrationsfähigkeit sinkt auf ein Minimum, mein Kopf fühlt sich an als wäre er statt mit grauen und weißen Zellen mit Watte ausgekleidet. 

Der Drang nach Veränderung wächst. Haare färben? Piercing? Tattoo? Küche renovieren? Neue Gardinen im Schlafzimmer? Ach, warum nicht einfach alles zusammen?  Mit der Umgestaltung äußerer Umstände bzw. meiner äußeren Entscheidung verdränge ich meine eigentliche Unzufriedenheit, die sich aus den Tiefen meiner inneren Abgründe langsam nach außen frisst. Sie nagt, sie knabbert, sie kaut auf meiner Lebkuchenhausfassade herum. Die Löcher kann ich nur noch schlecht mit ein bisschen Puderzuckerguss und Gummibärchen flicken. Aber wer mein Haus kennt, weiß, dass die Fassade bröckelt. Fragen wie: “Wie geht`s dir?” oder “Alles in Ordnung?” kann ich nicht mehr weglächeln oder übergehen. Komplimente wie “Du siehst viel lebendiger aus!” nicke ich ab und denke mir meinen Teil. Ich fühle mich nicht lebendig. Das hier fühlt sich auch nicht wie mein Leben an, sondern nur so, als würde ich zusehen, daneben stehen und ein paar unqualifizierte Bemerkungen aus dem Off machen. Fühlen ist auch das falsche Wort. Ich fühle auch nichts mehr. Jedenfalls nicht so wie vorher. Vielleicht habe ich auch den Zugang zu meinen Gefühlen verloren. Ich weiß es nicht. Es ist alles so wie das Wetter, kurze Tage, lange Nächte, wechselnde Grautöne.”

Frau Krause schaut erst meine Betreuerin, dann mich an. Ihre Augen sind mit Tränen gefüllt, aber auffallend leer. Sie liegen tief in den Höhlen, ihre Wangen sind eingefallen. Sie sitzt nach vorn gebeugt, eher geknickt auf ihrem Stuhl, die Hände liegen in ihrem Schoß, sie nestelt an ihren Fingern herum. Der Monolog war die Antwort auf die Frage warum sie hier sei. Mit “hier” ist die ambulante psychotherapeutische Praxis gemeint, in der ich aktuell mein Praktikum absolviere. Frau Krause ist in einem ähnlichen Alter, irgendwo Anfang 20, irgendwo zwischen Studium, Nebenjob und WG- Leben. Wenn Frau Krause und ich uns nicht hier kennengelernt hätten, dann sicher auf einer Feier in einem der Studiclubs am Campus. Frau Krause und ich hätten Freundinnen sein können. 

Aber hier sitzen wir. Drei Frauen in einem Raum, ein Zettel, ein Stift, eine Box mit Taschentüchern, eine Monstera in der Ecke. Man sieht Frau Krause an, dass es ihr nicht gut geht, wenn man ein bisschen Ahnung hat. Die im Raum stehende Scham ist erdrückend. Frau Krause schämt sich dafür, hier zu sitzen. Bei Menschen, die ihr helfen können. Sie schämt sich, dass sie professionelle Hilfe bei ihren Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen, in ihrem Alltag braucht. 

So viele Menschen schämen sich dafür, obwohl es ganz normal ist. So viele Menschen fühlen sich anders, nicht “normal” und wie ein Fehler im System. Scham und psychische Erkrankungen gehen Hand in Hand. Physische Erkrankungen hingegen sind komplett akzeptiert. Es ist vollkommen normal, sich bei Erkältungen, verstauchten Knöcheln oder Rückenschmerzen professionelle Hilfe zu suchen. Niemand hinterfragt einen Gips, alle wollen darauf unterschreiben. Bei psychischen Erkrankungen sieht das ganz anders aus: ungewollte, unempathische Fragen oder Bemerkungen wie “Ach, aber dir gehts doch gut. Sei nicht so undankbar”, oder “steh halt einfach eher auf und geh zum Sport” sind Gang und Gebe. Vermeintliche Ursachenfaktoren: falsche Ernährung, fehlende Vitamine, zu wenig Sport und mein absoluter Favorit bei Kindern und Jugendlichen: das Handy. Während all diese Dinge zur Entstehung einer psychischen Erkrankung beitragen können, so gibt es aber nicht DEN EINZIGEN FAKTOR, auf den alles zurückzuführen ist. Es ist eher wie beim Schach: am Anfang geht der Bauer verloren, irgendwann die Pferde, dann der Turm, die Dame und zack: Schachmatt. Aber wie auch bei einem Schachspiel ist der Weg dahin nicht immer gleich und verallgemeinerbar, deshalb sind auch die Lösungen nicht trivial und einfach. 

“Good Vibes Only” ist das Motto dieser Zeit. Es blinkt mir täglich entgegen und ist so toxisch, dass ich mich übergeben möchte. Es trägt dazu bei, dass Menschen sich noch schlechter fühlen. Sie fühlen sich schlecht, weil sie sich schlecht fühlen. Meta-schlecht quasi. Das Empfinden einer ständigen Glückseligkeit ist jedoch utopisch. In einer Gesellschaft, die das ständige Glücklichsein mit permanenten Urlaubsgefühlen als die Normalität anpreist und im Gegenzug den Menschen durch Leistung definiert, ist es wirklich nicht verwunderlich, dass Menschen nicht über ihre Gefühle sprechen wollen, sie verdrängen, sich vor ihnen verschließen und sich selbst belügen. Die Frage nach dem Befinden wird automatisch mit “gut” beantwortet und im schlimmsten aller Fälle mit “passt schon”. Es wird selten nachgefragt und wenn, dann bestehen Antworten aus Ausreden wie “Ach, der ganz normale Wahnsinn” oder “Stress auf der Arbeit”. Die Blicke oder allein die Angst vor den Blicken und Reaktionen der Mitmenschen reichen aus, um die Abwesenheit des Wohlbefindens mit sich selbst auszumachen. Niemand möchte als “verrückt” abgestempelt werden. Heute benutzt man Worte wie “Klapse” oder “Irrenhaus” zwar nicht mehr so oft, jedenfalls nicht in meiner Generation, aber die Vorurteile über psychische Erkrankungen sind tief verwurzelt. Die Aufklärung und Edukation erfolgt nur spärlich und qualitativ auf einem Niveau, das der Moderne nicht angemessen ist. Auch die mediale Auseinandersetzung mit dem Themenbereich ist mehr als dürftig. Reportagen sind einseitig. In den Nachrichten sind nur die schlimmsten aller Ausprägungen psychischer Erkrankungen zu erleben. Psychische Erkrankungen werden über einen Kamm geschert, verallgemeinert und nicht differenziert genug betrachtet. Menschen werden in Schubladen gesteckt, in die sie nicht passen. Kein Wunder also, dass die Scham so groß ist.

Allerdings erstreckt sich unser Gefühlsspektrum nicht ausschließlich in das Positive, sondern eben auch in das Negative. Wenn man sich die Basisemotionen nach Ekman anschaut, dann überwiegen sie sogar. Von den sechs Grundpfeilern unserer Gefühlswelt (jedenfalls nach Ekman) befinden sich zwei auf dem positiven Spektrum: Freude und Überraschung, wobei die Überraschung auch nicht immer gut sein muss. Die anderen – Angst, Trauer, Wut und Ekel, sind in unserer heutigen Gesellschaft negativ konnotiert. Dabei kommt den Gefühlen eine große Bedeutung zu: sie sind Indikatoren für das Überleben. Während wir heute vielleicht nicht mehr vor Säbelzahntigern wegrennen müssen, so jagen uns andere Dinge schreckliche Angst ein. Die Zukunft ist es zum Beispiel bei mir. Mein Studium neigt sich dem Ende entgegen und ich weiß absolut nicht, in welche Richtung ich will – weder geografisch noch fachlich. Die Welt steht mir mehr oder weniger offen, es gibt zu viel Auswahl und gleichzeitig sehe ich am Ende des Studiumtunnels die Arbeitswelt ihre Zähne blecken. Ich bin sicher, Frau Krause geht es ähnlich. Wie gern würde ich ihr sagen, dass ich sie verstehe. Ich kann ihre Gefühle und Gedanken nachvollziehen. Gerade jetzt im Winter. Lange Nächte, kurze Tage. Die Farbe des Himmels wechselt die Grautöne, die Lage des Wetters und meiner Stimmung wechselt zwischen bewölkt, windig, Schneeregen und Schnee. 

“Frau Krause, Sie sind nicht allein auf der Welt mit ihren Problemen”, als könnte meine Betreuerin meine Gedanken lesen, “es geht vielen Menschen ähnlich. Ganz viele Menschen haben mit ähnlichen Symptomen zu kämpfen. Das Gute ist aber, dass wir Ihnen helfen können. Sie sind die ersten Schritte gegangen. Gemeinsam schaffen wir das”. 

Sie sieht uns in einer Mischung aus Unglauben, Trauer und Verlorenheit an. Gedankenschwere, Gedankenkreisen, Gedankenspiralen schwingen in ihren Blicken mit. Sie bleibt still, schnieft kurz und nickt dann kaum merklich während Schneeflocken beginnen zu fallen. “Ich hasse Schnee und Kälte”, murmelt sie vor sich hin und die drei Frauen im Raum wissen, dass damit nicht nur das Wetter gemeint ist. 

Text: Ilka Reichelt

Bild: Francesco Ungaro

Anmerkungen:

Die Charaktere und Dialoge sind fiktiv. Sie sind lediglich an eigene Erfahrungen angelehnt.

Sollte es Dir momentan nicht gut gehen und du Hilfe benötigen, so kannst Du dich zunächst an wichtige Notfalltelefone wenden oder bei der Telefonseelsorge melden.

Altrosa.

*****Triggerwarnung: Sexueller Übergriff*****

Da steht ein Sack am anderen Ende des Flures, dessen transparente Hülle altrosafarbene Bettwäsche preisgibt. An sich ist er nicht groß, so groß wie ein normaler Müllbeutel eben groß ist.

An sich ist er nichts Besonderes, eine durchsichtige Tüte, gefüllt mit Stoff, Nähten und Reißverschlüssen. 

An sich ist das alles nicht wirklich weltverändernd, nicht für Außenstehende jedenfalls. 

Sie steht am anderen Ende des Flurs und starrt den Beutel mit einer Mischung aus Unglauben, Verachtung und Stolz an. Die ganze Situation scheint ihr irgendwie surreal und absurd.

 Sie fühlt sich nicht wie sie selbst, nicht wie die Protagonistin ihres eigenen Lebens, sondern eher wie eine Zuschauerin.  

Sie fühlt sich nicht als würde sie mit ihren eigenen Augen sehen, sondern als würde sie dem ganzen Spektakel eher zusehen. 

Sie fragt sich, was andere Menschen jetzt wohl denken würden. 

Sie fragt sich, ob andere Menschen auch so fühlen würden. 

Sie fragt sich, ob andere Menschen auch dasselbe tun würden. 

Sie fragt sich, ob sie nicht vielleicht doch überreagiert. 

Es ist mehr als ein halbes Jahr, mehr als 6 Monate, mehr als 25 Wochen, mehr als 175 Tage her. Aber hier zählt ja niemand mit. Obwohl der Zeitraum so erschreckend lang klingt, so als dürfte sie deshalb keine emotionalen Reaktionen mehr zeigen, so erscheint er doch auch irgendwie extrem kurz. Jedenfalls in ihrer Erinnerung. Immer dann, wenn das Geschehene hochkommt und vor ihren Augen abläuft wie ein schlechter Film. Sie erinnert sich an den Klang der Stimme, an den Geruch des Raumes, an das Gefühl der Hände, die nicht ihre eigenen waren. Sie erinnert sich an Worte, Sätze, Gesichtsausdrücke, an Blicke und an die Farbe der Bettwäsche – altrosa. 

Altrosa ist jetzt die Farbe, die sie mit Kontrollverlust und fehlender Zustimmung verbindet. 

Die Erinnerungen kommen und gehen.

 Manchmal einfach so, manchmal bei bestimmter Musik, manchmal an bestimmten Orten. 

Immer bei der sich jetzt im Müllsack befindlichen Bettwäsche.

Unabhängig von der Anzahl der Kochwäschen, der guten Worte mit sich selbst, unabhängig von der im Nachhinein mehr oder weniger erzwungenen Entschuldigung, altrosa musste aus dem Arsenal an Habseligkeiten verschwinden. 

Die Mülltüte am Ende des Flures starrt mit scheinbar 1000 Augen zurück. Sie verzieht keine Miene. Sie sagt nichts. Ihr nicht vorhandener Gesichtsausdruck spricht für sich. Sie spricht für sich. 

Aber wofür eigentlich?

Für das Vergessen? Eher nicht. 

Für einen Neuanfang? 

Für Besserung?

Für Stärke? 

Für den Rückkampf der Kontrolle?

 Für Persönlichkeitswachstum?

Ja wofür sprechen Dinge eigentlich, wenn sie eingepackt in Plastik sind, am Ende des Flures stehen und hoffen, dass ihre permanente Abwesenheit Erleichterung verspricht?

Sie steht am Ende des Flures, starrt den Beutel mit altrosa Füllung mit einer Mischung aus Unglauben, Verachtung und Stolz an und hofft, dass die Erinnerungen langsam, aber sicher zumindest aus dem unmittelbaren Alltag schwinden.

Sie hofft, dass die Filme weniger werden. 

Sie hofft, dass die Zweifel an ihr selbst weniger werden. 

Sie hofft und sie hofft und sie hofft, dass es vorbeigeht. 

Irgendwann. 

Text & Bild: Ilka Reichelt