Vom Kriege, der mit bloßem Auge nicht zu sehen ist
Liebes Tagebuch,
ein weiterer Tag ist vergangen. Was soll ich sagen; was gibt es überhaupt zu sagen? Er war wie jeder andere. Des Morgens zücke ich das Gerät. Des Mittags schlafe ich, anstatt wach zu sein. Des Abends starre ich in unendliche Dimensionen des Blaulichts, anstatt den Tag ausklingen zu lassen (Was braucht da ausklingen?). Des Nachts bin ich wach, anstatt zu schlafen.
Sie haben gewonnen. Sie sitzen fest im Sattel. Einst waren wir noch frei, konnten klar denken, hatten noch miteinander zu tun, nicht gegeneinander. Was ist aus dieser Welt geworden? Wo ist sie hin? Ohne Vorwarnung und unter höchstem Applaus ward sie eingefangen. Die Welt, mag sie auch so groß sein, so muss sie doch eine ihrer Größe gerechte Zelle erhalten haben. Oder?
Nein. Diese Zelle ist kaum größer, als meine Hand. Und doch steuert sie meine Hände. Sie steuert jede meine Ausführungen in einer unvergleichbaren Akribie. Im edlen Metallgewand präsentiert sie sich. Sie will zur Schau gestellt werden – jedes verdammte Jahr aufs Neue.
Einst als falscher Hoffnungsträger einer beispiellosen Vernetzung unseres Wesens gepriesen, wird sie nun vergöttert, wie man es nur aus einem Kult kennt. Der Kult hat im Sturm die gesamte Welt eingenommen. Dabei wissen die meisten ihrer Mitglieder nicht einmal, dass sie überhaupt dessen Teil sind. Sie halten sich für die Neuen, die Modernen, die Fortschrittlichen. Ihr Schicksal aber ist gesetzt: Sie werden von künftigen Generationen als Inbegriff des geistigen Niedergangs betrachtet werden. Man wird sie in aller Genauigkeit studieren. Lästige Lehrer werden nicht weniger lästige Schüler mit lästigen Lernaufgaben zu schnellem Vorankommen zwingen. Doch werden sie die Lektion wirklich lernen?
Der Krieg geht mit jedem Tag weiter. Mit jedem Tag kristallisiert sich ein Sieg des Neuen über das Alte heraus. Doch was sonst ist des Neuen Zweck, als sich der uralten Triebe gierigst zu betören, gar zu besaufen? Der Krieg geht mit jedem Tag weiter. Weiter, weiter, weiter läuft die Maschine, die wir uns gebaut haben. Schon Milliarden von Menschen aus der Welt des Intellekts gefegt, wartet sie nur auf die offizielle Übernahme. Heimlich hat diese schon längst stattgefunden. Man möge doch einen Tag ohne das Gerät verbringen. Wer könnte dies schon bis auf jene, die wirklich wegwollen? Und von denen, die wollen: Wie viele dieser Willigen schaffen es tatsächlich für die lange Frist?
Der Krieg tobt. Die letzten Zellen des Alten will er auslöschen, die nächsten Zellen des Neuen will er schon einsetzen.
Einst waren wir mündig. Und jene, die nicht waren, sollten einst werden. Nun widerlegt diese These sich mit jedem Tage. Ein weiterer Tag ist vergangen. Unmündig, hypnotisiert, belogen. Selbst die Bücher, die unendlichen Schatzkammern des Wissens, sollen ausgelöscht werden. Keine Verbrennung ist mehr notwendig, wie dies zu früheren Zeiten der Fall gewesen sein mag. Mittlerweile reicht die Ver-, genauer gesagt, die Herausbrennung des Buchs aus unseren Gedanken völlig aus. Und es klappt. Wie viele tüchtige Buchleser sind da draußen noch übrig?
„Wichtige Frage, welcher in heutiger Sitzung bedacht wird: Wie lange mochte uns das Denken wohl noch erlaubt bleiben?“
Der Denker-Club
Erlaubt möge es für immer bleiben. Doch sich der Erlaubnis zu bedienen, wird von Tag zu Tag immer unmöglicher. Liebes Tagebuch, ein weiterer Tag ist vergangen. Der Krieg geht mit jedem Tag weiter und er wird nie mehr ein Ende finden.
Text: @michael.afanasev
Illustration: L. Grösel
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