Hanau ist überall

Gedenkstätte Illustration

Paris, Notre Dame: stundenlang reden die Leute darüber, tagelang besteht mein Feed in den Sozialen Netzwerken aus Spendenaufrufen, Beileidsbekundungen und traurigen Emoticons. Bei Hanau, dem bereits dritten rechtsradikalen Anschlag innerhalb weniger Monate, verstummen die meisten. Ich jedenfalls sehe niemanden. Sind es die Shisha-Bars? Sind es die Fremden, die ihr erkennt? Oder glaubt ihr an das Privileg des unpolitischen Schweigens? Hanau sind wir alle!

Die Geschehnisse in Hanau erschüttern die Republik und erreichen trotz allem wenige. Hanau ist überall. Rechtsradikale Gewalt ist tagtäglich und in unserer demokratischen Gesellschaft allgegenwärtig – leider nicht erst seit den vergangenen Tagen. Wir sind es den Opfern des Anschlags schuldig, die Grundstrukturen in Politik, Medienlandschaft und in unseren Köpfen aufzubrechen. 

Es ist beleidigend und beinahe ironisch, wenn dem türkischen Präsidenten Erdogan Mitleid bekundet wird, wenn man bedenkt, und das sollten wir, das die Menschen, die bei diesem Anschlag ums Leben gekommen sind, unteranderem Minderheiten sind, die auch vor Erdogans Terror fl􏰀üchten. Kurden sind in der Tü􏰀rkei 􏰁“Berg-Tü􏰀rken“􏰂, in Deutschland 􏰁“Ausl􏰃ändische Tü􏰀rken“􏰂, wenn also Nationalität􏰃t in den Kontext eingeführt wird, wieso dann nicht mit entsprechendem Respekt. Auch die Gäste des Maybrit Illner Spezials zu Hanau schockieren 􏰄- Kübra Gümüsay die zu antikurdischem, antialevitischem und antiezidischem Terror schweigt, kann nicht das Gesicht der Minderheit sein!

Die Liste ist lang...

Wenn sie von Fremdenfeindlichkeit reden und nicht rassistisch sagen, übernehmen sie das Narrativ der Rechtsextremen, wo Menschen phänotypisch nicht zu Deutschland gehören, wonach Menschen als Fremde gelabelt werden. Fremde gibt es nicht, wir machen sie zu Fremden! Es muss nachdenklich und wütend machen, dass die Betroffenen immer wieder warnen müssen! Solange wir schweigen, umformulieren, besä􏰃nftigen, um 􏰁“kein Chaos“􏰂 z􏰅u stiften, solange sind wir verantwortlich für jedes weitere Opfer, schreiben weiter die viel zu lange Liste von Mitschuld, sehen Motiv und Problem nicht: Rassismus.

Rassismus ist nicht mit Lippenbekenntnissen abzuhaken, auch wenn Solidarität für die Opfer unabdingbar ist: Sie müssen wissen, dass sie nicht allein sind. Aber noch wichtiger ist es, die dahinterstehenden Grundstrukturen aufzudecken 􏰄- jetzt! Jeder und jede Einzelne steht in Verantwortung solidarisch zu sein, was damit beginnt, sich mit den Menschen, mit ihren Fragen, ihren Sorgen und Meinungen auseinanderzusetzen. Wir müssen an allen Ecken der Gesellschaft mit Nachdruck daran arbeiten, im Namen aller Opfer, aller Hinterbliebenen und aller Betroffenen.

Und Chemnitz, wo bist du? Vor allem dir steht Schweigen und Wegschauen nicht zu. Hanau ist keine Randnotiz, seine Shisha-Bars und Imbisse existieren mitten unter uns. Wenn es uns schwerfällt zu verstehen, dass die Angst unserer Mitmenschen real ist, wenn es schwerfällt, zu verstehen und nicht weniger betroffen zu sein, dann lasst uns nicht vergessen, dass uns kein Terrorist nach dem Pass fragt.

Text: Redaktion

Illustration: Julia Kütter 

Braune Flecken auf der Uniform

Von Jan H. 

Foto: Farahim Gasimov (Pixabay)

Am neunten Oktober 2019 tötet ein rechtsextremer Terrorist in Halle am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur kaltblütig zwei Menschen mit einer teils am 3D-Drucker selbstgebauten Waffe. Sein eigentliches Ziel, der Sturm einer voll besetzten Synagoge, scheiterte nur an einer Sicherheitstür. Einen derartig harten Schlag hatte man von rechter Seite nicht erwartet. Der Aufschrei ist groß. Jetzt wird man wohl aufwachen. Seehofer reist an. „Bei unserer Geschichte darf so etwas in unserem Land nicht passieren“, heißt es vom Innenminister. Bedauern und Mitleid wird bekundet. Maßnahmen werden angekündigt. Jetzt ist die Gefahr jedem bewusst. Könnte man meinen.

Ein kurzer Blick auf die Aufarbeitung der warnenden Angriffe von rechts in der Vergangenheit lässt durchaus Zweifel hegen. Nicht nur wurde beim Thema Terrorismusbekämpfung die rechte Gewalt offensichtlich deutlich unterschätzt, auch der Umgang mit Rechtsextremismus innerhalb deutscher Behörden zeigt deutlichen Verbesserungsbedarf.

Beispielhaft hierfür ist die Chronologie der medialen Aufschreie um die sächsische Polizei. Bereits 2015 wurde bekannt, dass BeamtInnen die rechtsextremistische Terrorgruppe Freital vor Razzien gewarnt haben sollen. Zu einer Aufklärung kommt es nie, denn die Handys, mit denen die beschuldigten PolizistInnen Informationen über WhatsApp ausgetauscht haben sollen, sind verschwunden. Vor Gericht wird geschwiegen. Die Staatsanwaltschaft versäumt frühzeitig ein Verfahren einzuleiten, obwohl sie beim Verhör anwesend war, in dem der Neonazi Hilfe durch staatliche Mitarbeiter zugibt.

 Im Jahr 2017 wird der neue Polizeipanzerwagen „Suvivor R“ in Leipzig vorgestellt. Auf den Sitzen finden sich gestickte Wappen mit altdeutscher Schrift, die stark an die NS-Symbolik erinnern. Sie sind wohl ein altes internes Zeichen des Spezialeinsatzkommandos, welches sonst in keinem Markenhandbuch der Polizei zu finden ist, so ein Sprecher der Polizei. Nachdem der öffentliche Druck größer wird, weist man rechte Gesinnungen zurück und überdenkt die Symbolik. Eine gründliche Aufklärung bleibt auch hier aus.

Letztes Jahr trägt ein Polizist des SEK bei einer Demonstration gegen Rassismus in Wurzen einen Aufnäher an der Polizeiuniform, der den Raben Odins zeigt, ein Symbol der nordischen Mythologie welches auch im rechten Spektrum Bedeutung hat. Der Polizist wird bestraft, allerdings nur wegen des Verstoßes gegen die Polizeidienstkleidungsordnung. Im Statement heißt es, es gäbe bei dieser Person keinen Anlass über eine rechte Gesinnung nachzudenken. Auch die Art der Strafe wird nicht bekanntgegeben. Die Liste der bedenkenswerten Hinweise ist noch lang und dennoch bleibt der Wunsch nach gründlicher Aufarbeitung meist unerfüllt.

Auch die Bundeswehr schreibt negative Schlagzeilen. Schon 2017 gesteht die ehemalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen ein „Haltungsproblem“ in den eigenen Reihen ein, nachdem der Vorwurf laut wird, es gäbe mehrere Fälle von rechtsextremen Schikanen und einem bekennenden Reichsbürger unter den SoldatInnen. Auf Nachfrage der Linksfraktion bestätigt die Bundeswehr aber im Jahr 2018, dass unter 270 gemeldeten Verdachtsfällen lediglich vier als extremistisch eingestuft worden seien. Auch gab es laut den Regierungsangaben Vorfälle mit Hitlergrüßen und „Sieg Heil“-Rufen, wobei einige der Beschuldigten ausschließlich mit Geldbußen belangt wurden. Das inkonsequente Vorgehen setzt sich auch hier trotz Besserungsversuchen fort.

Es gibt ja noch den Verfassungsschutz, mag man berechtigt einwerfen. Doch dass dieser der rechtsextremistischen Szene weit hinterher hinkt, zeigt der Fall Walter Lübke. Der mutmaßliche Mörder war den Behörden bereits bekannt, verhielt sich allerdings in fünf Jahren nicht weiter auffällig und konnte sich so 2015 vor Gericht das Recht auf einen Waffenschein erstreiten.

Trotz des Einsatzes von verdeckten Ermittlern tappt bei der Frage nach Netzwerken und Untergrundstrukturen, die Einzelpersonen solche Taten ermöglichen, hier sowie auch in Halle meist im Dunkeln. Es scheint so, als hätte man wenig aus den verhängnisvollen Fehlern bei der Aufklärung der NSU-Morde gelernt.

 

Medienwirksam werden Probleme in den eigenen Reihen kleingeredet und relativiert, und häufig ist die Rede von bedauerlichen Einzelfällen. Vielleicht ist der ein oder andere Regierungspolitiker auch mit klaren und konsequenten Statements gegen rechts vorsichtig geworden. Man möchte ja schließlich nicht noch mehr Stimmen an die AfD verlieren. Die Antworten auf die Frage nach Terrorismusbekämpfung klingen somit meist nach erweiterten Rechten für Polizei und sowieso mehr Überwachung. Sachsens Ministerpräsident fordert auf den Wahlplakaten eintausend neue PolizistInnen, an öffentlichen Plätzen in Chemnitz werden Kameras angebracht, ein umstrittenes Polizeigesetz wird beschlossen und Seehofer bringt sogar die eingestaubte Killerspieldebatte erneut ins Gespräch. Für die vielen Initiativen die sich in Chemnitz, Sachsen und ganz Deutschland gegen rechts engagieren wäre eine erweiterte staatliche Unterstützung ihrer Vereine wohl die sinnvollere Investition. Dass ein Konzert gegen rechts, wie „Wir sind mehr“ im Verfassungsschutzbericht landet zeigt aber, dass linken Bewegungen diese Unterstützung oft nicht zugesprochen werden. Denn das Problem der wachsenden rechten Radikalisierung lässt sich wohl kaum allein durch erhöhte Polizeipräsenz lösen. Vor allem an den Brennpunkten, an denen sich junge Menschen radikalisieren, ist Aufklärungs- und Präventionsarbeit von enormer Bedeutung, um dem erneut aufkommenden Faschismus Paroli zu bieten. Das umschließt aber auch die eigenen Strukturen offenzulegen und in Justiz, Militär, Verfassungsschutz und Polizei an den eigenen Schwächen zu arbeiten, anstatt rechtes Gedankengut in Staatsorganen als seltene Ausrutscher darzustellen. Denn das sind sie in unserer Gesellschaft schon lange nicht mehr. Auch wenn das der ein oder andere Politiker gerade in Bezug auf die Vergangenheit möglicherweise nicht sehen möchte.