Nasskalt.

*****Triggerwarnung: Psychische Erkrankungen, Depression*****

Hier ist er. Der Winter. Lange NĂ€chte, kurze Tage. Die Farbe des Himmels wechselt die Grautöne, die Lage des Wetters wechselt zwischen bewölkt, windig, Schneeregen und Schnee. Ich starre durch das Fenster nach draußen und mache eine gedankliche Notiz, meine Tageslichtlampe zu reaktivieren.

 

“Mit Beginn des Novembers fĂŒhle ich mich auf seltsame Weise zu dem dunklen Teil meiner Garderobe hingezogen. Ich habe viel zu tun, aber bleibe lieber liegen. Statt nach dem ersten Klingeln des Weckers aufzustehen, drĂŒcke ich die Schlummertaste 100 mal und prokrastiniere so lang vor mich hin bis ich mir einreden kann, dass es eh nicht mehr viel bringen wĂŒrde noch mit Unisachen anzufangen. Meine KonzentrationsfĂ€higkeit sinkt auf ein Minimum, mein Kopf fĂŒhlt sich an als wĂ€re er statt mit grauen und weißen Zellen mit Watte ausgekleidet. 

Der Drang nach VerĂ€nderung wĂ€chst. Haare fĂ€rben? Piercing? Tattoo? KĂŒche renovieren? Neue Gardinen im Schlafzimmer? Ach, warum nicht einfach alles zusammen?  Mit der Umgestaltung Ă€ußerer UmstĂ€nde bzw. meiner Ă€ußeren Entscheidung verdrĂ€nge ich meine eigentliche Unzufriedenheit, die sich aus den Tiefen meiner inneren AbgrĂŒnde langsam nach außen frisst. Sie nagt, sie knabbert, sie kaut auf meiner Lebkuchenhausfassade herum. Die Löcher kann ich nur noch schlecht mit ein bisschen Puderzuckerguss und GummibĂ€rchen flicken. Aber wer mein Haus kennt, weiß, dass die Fassade bröckelt. Fragen wie: “Wie geht`s dir?” oder “Alles in Ordnung?” kann ich nicht mehr weglĂ€cheln oder ĂŒbergehen. Komplimente wie “Du siehst viel lebendiger aus!” nicke ich ab und denke mir meinen Teil. Ich fĂŒhle mich nicht lebendig. Das hier fĂŒhlt sich auch nicht wie mein Leben an, sondern nur so, als wĂŒrde ich zusehen, daneben stehen und ein paar unqualifizierte Bemerkungen aus dem Off machen. FĂŒhlen ist auch das falsche Wort. Ich fĂŒhle auch nichts mehr. Jedenfalls nicht so wie vorher. Vielleicht habe ich auch den Zugang zu meinen GefĂŒhlen verloren. Ich weiß es nicht. Es ist alles so wie das Wetter, kurze Tage, lange NĂ€chte, wechselnde Grautöne.”

Frau Krause schaut erst meine Betreuerin, dann mich an. Ihre Augen sind mit TrĂ€nen gefĂŒllt, aber auffallend leer. Sie liegen tief in den Höhlen, ihre Wangen sind eingefallen. Sie sitzt nach vorn gebeugt, eher geknickt auf ihrem Stuhl, die HĂ€nde liegen in ihrem Schoß, sie nestelt an ihren Fingern herum. Der Monolog war die Antwort auf die Frage warum sie hier sei. Mit “hier” ist die ambulante psychotherapeutische Praxis gemeint, in der ich aktuell mein Praktikum absolviere. Frau Krause ist in einem Ă€hnlichen Alter, irgendwo Anfang 20, irgendwo zwischen Studium, Nebenjob und WG- Leben. Wenn Frau Krause und ich uns nicht hier kennengelernt hĂ€tten, dann sicher auf einer Feier in einem der Studiclubs am Campus. Frau Krause und ich hĂ€tten Freundinnen sein können. 

Aber hier sitzen wir. Drei Frauen in einem Raum, ein Zettel, ein Stift, eine Box mit TaschentĂŒchern, eine Monstera in der Ecke. Man sieht Frau Krause an, dass es ihr nicht gut geht, wenn man ein bisschen Ahnung hat. Die im Raum stehende Scham ist erdrĂŒckend. Frau Krause schĂ€mt sich dafĂŒr, hier zu sitzen. Bei Menschen, die ihr helfen können. Sie schĂ€mt sich, dass sie professionelle Hilfe bei ihren GefĂŒhlen, Gedanken und Verhaltensweisen, in ihrem Alltag braucht. 

So viele Menschen schĂ€men sich dafĂŒr, obwohl es ganz normal ist. So viele Menschen fĂŒhlen sich anders, nicht “normal” und wie ein Fehler im System. Scham und psychische Erkrankungen gehen Hand in Hand. Physische Erkrankungen hingegen sind komplett akzeptiert. Es ist vollkommen normal, sich bei ErkĂ€ltungen, verstauchten Knöcheln oder RĂŒckenschmerzen professionelle Hilfe zu suchen. Niemand hinterfragt einen Gips, alle wollen darauf unterschreiben. Bei psychischen Erkrankungen sieht das ganz anders aus: ungewollte, unempathische Fragen oder Bemerkungen wie “Ach, aber dir gehts doch gut. Sei nicht so undankbar”, oder “steh halt einfach eher auf und geh zum Sport” sind Gang und Gebe. Vermeintliche Ursachenfaktoren: falsche ErnĂ€hrung, fehlende Vitamine, zu wenig Sport und mein absoluter Favorit bei Kindern und Jugendlichen: das Handy. WĂ€hrend all diese Dinge zur Entstehung einer psychischen Erkrankung beitragen können, so gibt es aber nicht DEN EINZIGEN FAKTOR, auf den alles zurĂŒckzufĂŒhren ist. Es ist eher wie beim Schach: am Anfang geht der Bauer verloren, irgendwann die Pferde, dann der Turm, die Dame und zack: Schachmatt. Aber wie auch bei einem Schachspiel ist der Weg dahin nicht immer gleich und verallgemeinerbar, deshalb sind auch die Lösungen nicht trivial und einfach. 

“Good Vibes Only” ist das Motto dieser Zeit. Es blinkt mir tĂ€glich entgegen und ist so toxisch, dass ich mich ĂŒbergeben möchte. Es trĂ€gt dazu bei, dass Menschen sich noch schlechter fĂŒhlen. Sie fĂŒhlen sich schlecht, weil sie sich schlecht fĂŒhlen. Meta-schlecht quasi. Das Empfinden einer stĂ€ndigen GlĂŒckseligkeit ist jedoch utopisch. In einer Gesellschaft, die das stĂ€ndige GlĂŒcklichsein mit permanenten UrlaubsgefĂŒhlen als die NormalitĂ€t anpreist und im Gegenzug den Menschen durch Leistung definiert, ist es wirklich nicht verwunderlich, dass Menschen nicht ĂŒber ihre GefĂŒhle sprechen wollen, sie verdrĂ€ngen, sich vor ihnen verschließen und sich selbst belĂŒgen. Die Frage nach dem Befinden wird automatisch mit “gut” beantwortet und im schlimmsten aller FĂ€lle mit “passt schon”. Es wird selten nachgefragt und wenn, dann bestehen Antworten aus Ausreden wie “Ach, der ganz normale Wahnsinn” oder “Stress auf der Arbeit”. Die Blicke oder allein die Angst vor den Blicken und Reaktionen der Mitmenschen reichen aus, um die Abwesenheit des Wohlbefindens mit sich selbst auszumachen. Niemand möchte als “verrĂŒckt” abgestempelt werden. Heute benutzt man Worte wie “Klapse” oder “Irrenhaus” zwar nicht mehr so oft, jedenfalls nicht in meiner Generation, aber die Vorurteile ĂŒber psychische Erkrankungen sind tief verwurzelt. Die AufklĂ€rung und Edukation erfolgt nur spĂ€rlich und qualitativ auf einem Niveau, das der Moderne nicht angemessen ist. Auch die mediale Auseinandersetzung mit dem Themenbereich ist mehr als dĂŒrftig. Reportagen sind einseitig. In den Nachrichten sind nur die schlimmsten aller AusprĂ€gungen psychischer Erkrankungen zu erleben. Psychische Erkrankungen werden ĂŒber einen Kamm geschert, verallgemeinert und nicht differenziert genug betrachtet. Menschen werden in Schubladen gesteckt, in die sie nicht passen. Kein Wunder also, dass die Scham so groß ist.

Allerdings erstreckt sich unser GefĂŒhlsspektrum nicht ausschließlich in das Positive, sondern eben auch in das Negative. Wenn man sich die Basisemotionen nach Ekman anschaut, dann ĂŒberwiegen sie sogar. Von den sechs Grundpfeilern unserer GefĂŒhlswelt (jedenfalls nach Ekman) befinden sich zwei auf dem positiven Spektrum: Freude und Überraschung, wobei die Überraschung auch nicht immer gut sein muss. Die anderen – Angst, Trauer, Wut und Ekel, sind in unserer heutigen Gesellschaft negativ konnotiert. Dabei kommt den GefĂŒhlen eine große Bedeutung zu: sie sind Indikatoren fĂŒr das Überleben. WĂ€hrend wir heute vielleicht nicht mehr vor SĂ€belzahntigern wegrennen mĂŒssen, so jagen uns andere Dinge schreckliche Angst ein. Die Zukunft ist es zum Beispiel bei mir. Mein Studium neigt sich dem Ende entgegen und ich weiß absolut nicht, in welche Richtung ich will – weder geografisch noch fachlich. Die Welt steht mir mehr oder weniger offen, es gibt zu viel Auswahl und gleichzeitig sehe ich am Ende des Studiumtunnels die Arbeitswelt ihre ZĂ€hne blecken. Ich bin sicher, Frau Krause geht es Ă€hnlich. Wie gern wĂŒrde ich ihr sagen, dass ich sie verstehe. Ich kann ihre GefĂŒhle und Gedanken nachvollziehen. Gerade jetzt im Winter. Lange NĂ€chte, kurze Tage. Die Farbe des Himmels wechselt die Grautöne, die Lage des Wetters und meiner Stimmung wechselt zwischen bewölkt, windig, Schneeregen und Schnee. 

“Frau Krause, Sie sind nicht allein auf der Welt mit ihren Problemen”, als könnte meine Betreuerin meine Gedanken lesen, “es geht vielen Menschen Ă€hnlich. Ganz viele Menschen haben mit Ă€hnlichen Symptomen zu kĂ€mpfen. Das Gute ist aber, dass wir Ihnen helfen können. Sie sind die ersten Schritte gegangen. Gemeinsam schaffen wir das”. 

Sie sieht uns in einer Mischung aus Unglauben, Trauer und Verlorenheit an. Gedankenschwere, Gedankenkreisen, Gedankenspiralen schwingen in ihren Blicken mit. Sie bleibt still, schnieft kurz und nickt dann kaum merklich wĂ€hrend Schneeflocken beginnen zu fallen. “Ich hasse Schnee und KĂ€lte”, murmelt sie vor sich hin und die drei Frauen im Raum wissen, dass damit nicht nur das Wetter gemeint ist. 

Text: Ilka Reichelt

Bild: Francesco Ungaro

Anmerkungen:

Die Charaktere und Dialoge sind fiktiv. Sie sind lediglich an eigene Erfahrungen angelehnt.

Sollte es Dir momentan nicht gut gehen und du Hilfe benötigen, so kannst Du dich zunÀchst an wichtige Notfalltelefone wenden oder bei der Telefonseelsorge melden.