Im Jahr 1902 kam es während des Baus des Assuan-Staudamms unter Khedive Abbas Helmy II in Nubien zu einer Reihe von Vertreibungen. Infolge des Baus des Assuan-Staudamms stieg der Wasserspiegel hinter dem Damm an und überflutete zehn nubische Dörfer. Die Bewohner:innen dieser Dörfer bezahlten den Bau des Stausees selbst, da sie freiwillig in Dörfer im westlichen Teil Nubiens und in die verschiedenen Gouvernements (Verwaltungsbezirken) der Republik Ägypten ziehen mussten. Die Dörfer, die es vorzogen auf den Höhen zu siedeln, um nicht zu versinken, versanken erneut, als der Stausee 1912 erstmals anstieg. Der Wasserspiegel stieg und überschwemmte acht weitere Dörfer (Al-Alaqi, Al-Siyala, Al-Muharraqa, Al-Madiq, Al-Sebu‘, Wadi Al-Arab und Shatirameh). Mit einem zweiten Anstieg des Stausees im Jahr 1933 wurden zehn weitere Dörfer überschwemmt.

Vom alten Nubien bis in die Neuzeit besaßen die Nubier:innen Ackerland, das genug Getreide für das ganze Jahr lieferte – damals besaß jede Person mindestens 50 Hektar. Bei jeder Vertreibung brachten die Nubier:innen ihr gesamtes Vieh und ihre Feldfrüchte mit, bauten neue Häuser und bebauten neues Land. Nach der Revolution 1952 dachten die Nubier:innen, ihre Vertreibung sei vorbei – doch 1954 begann die Regierung mit der Planung für den Bau des Hochdammes, um überschüssiges Wasser und Strom zu erzeugen. Der Vertreibungsprozess begann 1963 und endete im Juni 1964.

Im Januar 1960 hielt Präsident Gamal Abdel Nasser eine Rede vor dem nubischen Volk in Abu Simbel. Er beschrieb die Entscheidung zum Bau des Staudamms als Lösung für mehrere „Krisen“ Nubiens, die sich in kultureller Isolation und Zivilisation zusammenfassen lassen. Darüber hinaus wurde die Umsiedlung auch als Gelegenheit versprochen, die Nubier:innen in die industrielle Renaissance einzubeziehen. Hierbei wurde betont, dass sie an Orte ziehen würden, an denen Gesundheitsdienstleistungen und -einrichtungen zur Verfügung stünden. In den Archivaufnahmen von Abdel Nassers Ansprache an die Nubier:innen im Jahr 1960 wurde ihnen versichert, dass ihre Rückkehr in ihr angestammtes Land unvermeidlich sei, sobald der Wasserstand nach dem Bau des Staudamms feststehe. Obwohl Abdel Nasser von den Menschen bejubelt wurde, erwiesen sich all diese Versprechen im Nachhinein als vergeblich. Bis heute fordern die Nubier das Recht auf Rückkehr sowie eine Entschädigung für das Geschehene.

Die Vertreibung fand zwischen 1963 und 1964 statt, als etwa 50.000 Nubier:innen von ihrem Land und ihren Häusern vertrieben wurden. Über 45 Dörfer wurden überflutet und ihre Bewohner in ein 60 km entferntes Wüstengebiet nördlich von Assuan vertrieben. Es gibt nur noch wenige Dörfer, die nicht vertrieben wurden, wie z. B. West Suhail, das mit seinen bunten alten Häusern im nubischen Stil jedes Jahr Zehntausende von ägyptischen und ausländischen Tourist:innen anzieht.

Mehr als 45 entvölkerte Dörfer stehen unter dem, was jetzt „Nassersee“ genannt wird. Der größte künstliche See der Welt entstand durch den Aufstau des Wassers hinter dem Staudamm nach dessen Bau. Der See wird in Anlehnung an den Präsidenten Gamal Abdel Nasser „Naser“ genannt. Die Nubier fordern, dass der Staat als ersten Schritt und als geringstes Zeichen einer wirklichen Anerkennung der Rechte der Nubier:innen den See in Erinnerung an die Vertreibung in „Nubischer See“ umbenennt und dem Namen, den das Gebiet seit Tausenden von Jahren trägt, Vorrang einräumt. Nach Angaben des staatlichen ägyptischen Informationsdienstes umfasste der Nassersee den größten Teil des ägyptischen Nubiens und auch einen Teil des sudanesischen Nubiens.

Die Nubier:innen gründeten Bürgervereine mit den Namen der Dörfer und Familien der vertriebenen Dörfer. Mehr als 80 nubische Vereinigungen sind über die zentralen Städte Kairo und Alexandria verteilt und spielen seitdem eine entscheidende Rolle bei der Vernetzung, Koordinierung und sozialen Solidarität unter den nubischen Dörfern und Familien. Noch wichtiger ist, dass diese Vereinigungen die Verbindungspunkte zwischen den Nubiern in Kairo und Alexandria und den Nubier:innen aus den vertriebenen Dörfern waren.

Die nubischen Bürgervereine verbreiteten sich in dem Maße, wie die Nubier selbst in viele Orte und Länder auswanderten, bis einige von ihnen Europa und Nordamerika erreichten. Auch in den USA und England beispielsweise gibt es mittlerweile ägyptisch-nubische Vereine, die Hilfe für den Bau und den Wiederaufbau vertriebener Dörfer sammeln, um die Wiedervereinigung von Nubier:innen im Ausland sicherzustellen.

Die ägyptische Revolution vom Januar 2011 spielte eine wichtige Rolle bei der Neugestaltung der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft und bot den Nubier:innen die Gelegenheit, nach dem Volksaufstand, der zum Sturz von Präsident Mubarak führte, das Recht auf Rückkehr in ihr angestammtes Land zu fordern. Daher wurden mehrere Ausschüsse gebildet und Ministertreffen abgehalten, um die vertriebenen Dörfer zu entwickeln und die Rückkehr der Nubier:innen voranzutreiben. Die politischen Veränderungen und die Instabilität in Ägypten haben jedoch die Arbeit dieser Ausschüsse und Ministerien beeinträchtigt, sodass bis 2014 nur geringe Fortschritte erzielt wurden.

Die größte Errungenschaft im Fall der Nubier:innen nach der Revolution war die Aufnahme eines Artikels in die Verfassung von 2014, der das Rückkehrrecht der Nubier:innen anerkennt und den Staat verpflichtet, es innerhalb einer bestimmten Frist umzusetzen. Artikel 236 besagt Folgendes:

„Der Staat garantiert die Aufstellung und Umsetzung eines Plans für die umfassende wirtschaftliche und städtische Entwicklung der Grenzgebiete und der unterprivilegierten Gebiete, einschließlich Oberägypten, Sinai, Matrouh und Nubien. Dies erfolgt unter Beteiligung der Bewohner:innen dieser Gebiete an diesen Entwicklungsprojekten, und sie werden unter Berücksichtigung der kulturellen und ökologischen Gegebenheiten der örtlichen Gemeinschaft innerhalb von zehn Jahren nach Inkrafttreten dieser Verfassung, wie gesetzlich geregelt, vorrangig davon profitieren. Der Staat arbeitet an der Festlegung und Durchführung von Projekten zur Rückführung der Bewohner Nubiens in ihre ursprünglichen Gebiete und zur Entwicklung dieser Gebiete innerhalb von zehn Jahren, wie gesetzlich geregelt.“

Obwohl sieben Jahre der in der Verfassung vorgesehenen Zehnjahresfrist verstrichen sind, haben sich diese verfassungsmäßigen Vorteile nicht in der Praxis niedergeschlagen. Einzelne Nubier:innen in vielen Gouvernements organisierten zahlreiche Proteste und Demonstrationen, um gegen die Vernachlässigung der Umsetzung durch den Staat zu protestieren. Die Januarrevolution hatte einen Raum für Proteste und Demonstrationen geschaffen. Viele Minderheiten wurden durch den Schwung der Aufstände des Arabischen Frühlings ebenfalls zur Mobilisierung ermutigt. Die Nubier:innen bildeten dabei keine Ausnahme, während die Minderheiten zuvor auf den ägyptischen Straßen nicht vertreten waren.

Nach der Machtübernahme durch Präsident Abdel Fattah El-Sisi im März 2014 führte die Militarisierung der ägyptischen Gesellschaft dazu, dass die öffentliche Sphäre und die Räume für gemeinschaftliche und politische Partizipation im Allgemeinen geschlossen wurden. Die Militarisierung des Staates erstreckte sich auch auf die nubischen Dörfer, in die die Nubier:innen zurückkehren wollten, da der Präsident im November 2014 das Präsidialdekret Nr. 44 erließ, in dem dieses Gebiet zur Militärzone erklärt und für die Armeeeinheiten bestimmt wurde.

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Text: Eslam Krar
Übersetzung: Julia Jesser