Wie es weiter geht

Zwei Jahre ist es her, da sprachen wir vom ersten Mal. Mittlerweile sind wir bei Ausgabe drei und sind den Kinderschuhen so ziemlich entwachsen.

„Tabu und Protest“ ist das diesjährige Titelthema und damit haben wir unseren Leitspruch „Dont keep it shut“ vielleicht überhaupt das erste Mal so richtig Ernst genommen. Wir haben über Themen, die durch Unterdrückungsverhältnisse strukturiert sind und unsere Perspektiven nachhaltig prägen recherchiert, geschrieben, illustriert und fotografiert.

Entstanden sind die gewohnten kurzen Texte von Periode bis zu Sterbehilfe, von Outing über Polygamie, aber eben auch ein Sonderthema mit 16 Seiten zu rechter Forschung in der Sozialwissenschaft, was uns an die Technische Universität in Chemnitz führte.

Wir wollen mit dieser Ausgabe wieder Unordnung im Unbehagen schaffen und gemeinsam den Diskurs des Miteinanders aufrechterhalten und durch diverse Perspektiven erweitern. 

Für eine freie und gleichberechtigte Willensbildung und Mitbestimmung in gesellschaftlichen Diskursen braucht es Stimmen und Gesichter. Wir geben ihnen Platz.

Text: Svenja Jäger
Bild: Julia Küttner

Altrosa.

*****Triggerwarnung: Sexueller Übergriff*****

Da steht ein Sack am anderen Ende des Flures, dessen transparente Hülle altrosafarbene Bettwäsche preisgibt. An sich ist er nicht groß, so groß wie ein normaler Müllbeutel eben groß ist.

An sich ist er nichts Besonderes, eine durchsichtige Tüte, gefüllt mit Stoff, Nähten und Reißverschlüssen. 

An sich ist das alles nicht wirklich weltverändernd, nicht für Außenstehende jedenfalls. 

Sie steht am anderen Ende des Flurs und starrt den Beutel mit einer Mischung aus Unglauben, Verachtung und Stolz an. Die ganze Situation scheint ihr irgendwie surreal und absurd.

 Sie fühlt sich nicht wie sie selbst, nicht wie die Protagonistin ihres eigenen Lebens, sondern eher wie eine Zuschauerin.  

Sie fühlt sich nicht als würde sie mit ihren eigenen Augen sehen, sondern als würde sie dem ganzen Spektakel eher zusehen. 

Sie fragt sich, was andere Menschen jetzt wohl denken würden. 

Sie fragt sich, ob andere Menschen auch so fühlen würden. 

Sie fragt sich, ob andere Menschen auch dasselbe tun würden. 

Sie fragt sich, ob sie nicht vielleicht doch überreagiert. 

Es ist mehr als ein halbes Jahr, mehr als 6 Monate, mehr als 25 Wochen, mehr als 175 Tage her. Aber hier zählt ja niemand mit. Obwohl der Zeitraum so erschreckend lang klingt, so als dürfte sie deshalb keine emotionalen Reaktionen mehr zeigen, so erscheint er doch auch irgendwie extrem kurz. Jedenfalls in ihrer Erinnerung. Immer dann, wenn das Geschehene hochkommt und vor ihren Augen abläuft wie ein schlechter Film. Sie erinnert sich an den Klang der Stimme, an den Geruch des Raumes, an das Gefühl der Hände, die nicht ihre eigenen waren. Sie erinnert sich an Worte, Sätze, Gesichtsausdrücke, an Blicke und an die Farbe der Bettwäsche – altrosa. 

Altrosa ist jetzt die Farbe, die sie mit Kontrollverlust und fehlender Zustimmung verbindet. 

Die Erinnerungen kommen und gehen.

 Manchmal einfach so, manchmal bei bestimmter Musik, manchmal an bestimmten Orten. 

Immer bei der sich jetzt im Müllsack befindlichen Bettwäsche.

Unabhängig von der Anzahl der Kochwäschen, der guten Worte mit sich selbst, unabhängig von der im Nachhinein mehr oder weniger erzwungenen Entschuldigung, altrosa musste aus dem Arsenal an Habseligkeiten verschwinden. 

Die Mülltüte am Ende des Flures starrt mit scheinbar 1000 Augen zurück. Sie verzieht keine Miene. Sie sagt nichts. Ihr nicht vorhandener Gesichtsausdruck spricht für sich. Sie spricht für sich. 

Aber wofür eigentlich?

Für das Vergessen? Eher nicht. 

Für einen Neuanfang? 

Für Besserung?

Für Stärke? 

Für den Rückkampf der Kontrolle?

 Für Persönlichkeitswachstum?

Ja wofür sprechen Dinge eigentlich, wenn sie eingepackt in Plastik sind, am Ende des Flures stehen und hoffen, dass ihre permanente Abwesenheit Erleichterung verspricht?

Sie steht am Ende des Flures, starrt den Beutel mit altrosa Füllung mit einer Mischung aus Unglauben, Verachtung und Stolz an und hofft, dass die Erinnerungen langsam, aber sicher zumindest aus dem unmittelbaren Alltag schwinden.

Sie hofft, dass die Filme weniger werden. 

Sie hofft, dass die Zweifel an ihr selbst weniger werden. 

Sie hofft und sie hofft und sie hofft, dass es vorbeigeht. 

Irgendwann. 

Text & Bild: Ilka Reichelt